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Foucaults Theorie der +Disziplinargesellschaft +S +S +S +SAdorno, Luhmann: Die moderne Gesellschaft zwischen +Selbstreferenz und Selbstdestruktion +S +S +S +S'Nicht der Anfang, das Ende trgt die Last'. +SFriedrich Georg Jnger und die Perfektion der Technik +S +S +S +SDer Nihilismus der Geschwindigkeit. +SZum Werk Paul Virilios +S +S +S +STechnik und Wissenschaft als Hierophanie +S +S +S +SGtterdmmerung +S +SPA +SVorwort +S +S +S +S +S +S +S... Wir ordnens. Es zerfllt. +S Wir ordnens wieder und zerfallen selbst. +S Rilke, Duineser Elegien +S +SDie Gegenwart, so versichert man uns seit einiger Zeit, stehe im +Zeichen eines groen Verschwindens. Die Metaerzhlungen, welche +die Spielregeln des modernen Wissens legitimierten, lsten sich +auf oder verlren an Glaubwrdigkeit; die Diskurse ber die +Dialektik des Geistes, die Hermeneutik des Sinns oder die +Emanzipation der Gattung enthllten sich als Fabeln, denen keine +Funktion mehr zukomme (Lyotard 1986, 13f.). Die Fundamente der +neuzeitlichen Metaphysik wrden brchig, das Ende des +Humanismus, der Subjektivitt, ja der Moderne schlechthin +kndige sich an (Vattimo 1990, 52f.). Das Wissen selbst sprenge +im Zuge seiner Entfaltung die vereinheitlichenden, +universalisierenden, totalisierenden Ambitionen, mit denen es +seit Descartes belastet sei. Relativittstheorie und +Quantenphysik bewirkten eine Grundsatzrevision, eine "Mutation +im Kern der Neuzeit", an der der Absolutheitsanspruch der alten +Mathesis universalis zerbreche. Auflsung des Ganzen, Ende der +Einheit, Obsoletheit der Totalitt: "Absolutheit ist nur noch +eine Idee, ein archimedischer Punkt ist undenkbar, das Operieren +ohne letztes Fundament wird zur Grundsituation" (Welsch 1988, +187). +S +SDem Verschwinden der Totalitt, heit es weiter, korrespondiert +das Erscheinen der Pluralitt, dem 'Koma der Moderne' (Matthieu) +die Geburt der Postmoderne. Wo der szientifische Diskurs der +Moderne nur den Kult einer monotheistischen Vernunft kannte, +begreift sich der Postmodernismus als Anwalt des Polytheismus, +als "Wahrer einer vielfltigen Wirklichkeit gegen ihre +technologische Eintrbung" (ebd. 221 f.); wo einst die +Monokultur eines technologischen Zeitalters sich ausbreitete, +blht heute eine bunte Vielfalt von Horizonten, Lebenswelten, +Wissensformen. Die Postmoderne 'verwindet' die Metaphysik +(Vattimo 1990, 53); sie beharrt gegenber der homogenisierenden +Gewalt des konomischen Diskurses auf der "Heterogenitt der +Satz-Regelsysteme und Diskursarten" (Lyotard 1987, 263) und +zeigt sich aggressiv gegen jede Totalisierung. "Krieg dem +Ganzen, zeugen wir fr das Nicht-Darstellbare, aktivieren wir +die Widerstreite, retten wir die Ehre des Namens" (Lyotard 1988, +203). Auch wenn in diesem Krieg noch einige Schlachten verloren +gehen sollten, glaubt die Postmoderne die strkeren Bataillone +auf ihrer Seite zu haben. Sie will gegenber Technik und +konomie das umfassendere Deutungsmuster sein und nicht nur die +Entwicklungslogik des Wissens, sondern auch die der Gesellschaft +fr sich haben (Welsch 1988, 218, 4). Das Verschwinden des +Ganzen sei nicht mehr aufzuhalten, die Freisetzung der Teile +unvermeidlich. "Die Postmoderne beginnt dort, wo das Ganze +aufhrt" (ebd. 39). +S +SNun gibt es wenig Grnde, die Moderne vor der Kritik zu +schtzen. Die meisten der gegen sie vorgetragenen Gravamina +bestehen zu Recht. Es gibt aber auch keinen Grund, sich einem +Feldzug anzuschlieen, der auf einer so fragwrdigen +Lagebeurteilung wie der soeben skizzierten beruht. Zunchst +einmal ist vllig ungeklrt, um welche Art von Pluralitt es +sich handelt, die den Holismus der Moderne ersetzen soll: um +eine Pluralitt, die aus der Gleichzeitigkeit des +Ungleichzeitigen resultiert, also lediglich ein Ensemble noch +nicht vermittelter Vielheit ist; um die Differenzierungsprodukte +einer Einheit, die noch im Auersichsein bei sich selbst ist - +Pluralitt la Hegel; oder um eine materiale, irreduzible +Pluralitt, an der jeder Homogenisierungsversuch scheitert. Nur +diese letztere liee sich aussichtsreich mobilisieren, aber auch +nur dann, wenn sie strategische Relevanz besitzt und nicht blo +marginaler Natur ist. Lyotards Eingestndnis, das einzige +unberwindliche Hindernis fr die hegemonialen Tendenzen des +konomischen Diskurses liege in der Heterogenitt der Satz- +Regelsysteme, deutet jedoch genau in diese Richtung. Wer der +zerstrerischen Gewalt der Moderne nur Stze entgegenzusetzen +hat, hat ihr schon nichts mehr entgegenzusetzen. +S +SSchlielich sind auch die Bundesgenossen, auf die sich der +Postmodernismus glaubt sttzen zu knnen, alles andere als +vertrauenerweckend. Es mag ja sein, da mit den Innovationen von +Einstein, Heisenberg und Gdel der Totalittsanspruch der alten +Mathesis universalis unhaltbar geworden ist. Aber erstens ist +das mechanische Weltbild durch die neuere Physik nicht einfach +widerlegt, sondern lediglich auf den mesokosmischen Bereich +eingeschrnkt worden. Und zweitens kann man den Vorsto von +Wissenschaft und Technik in den mikro- und makrokosmischen +Bereich kaum als Beleg fr eine "Einschrnkung des +Monopolanspruchs der Wissenschaft" oder als Anzeichen fr eine +Beendigung der "Hegemonie szientifischer Orientierung" nehmen +(Welsch 1988, 188, 222). Die Flexibilisierung der Wissenschaft +und die Erweiterung ihres Methodenarsenals begrnden ihre +Expansion, nicht ihre Selbstlimitation. +S +SWie die Postmodernisten ihre eigenen Strke berschtzen, so +unterschtzen sie die des Gegners. Die Rede von den groen +Erzhlungen suggeriert, da Totalitt nichts weiter sei als eine +"Anmaung" (Lyotard 1988a, 213), eine falsche Darstellung der +Welt, die sich jederzeit durch eine adquatere korrigieren +liee; der Diskurs der Moderne erscheint so als das Ergebnis +einer immer schon "illegitimen Erhebung eines in Wirklichkeit +Partikularen zum vermeintlich Absoluten" (Welsch 1988, 5), als +bergriff, dem kritizistisch mit dem Hinweis auf die begrenzten +Kompetenzen des Denkens zu begegnen ist. So ungefhr +argumentierten vor Jahrzehnten schon Popper und Albert, die sich +weit mehr dafr interessierten, den Dialektikern totalitre +Ambitionen nachzuweisen, als den totalisierenden Tendenzen in +der Wirklichkeit nachzugehen. Totalitt ist aber keine Erfindung +herrschschtiger Intellektueller, sondern eine Realitt, die +sich nicht einfach wegdekretieren lt. Sie manifestiert sich in +der Tendenz des Kapitals, "alle Elemente der Gesellschaft sich +unterzuordnen oder die ihm noch fehlenden Organe aus ihr heraus +zu schaffen" (Marx 1974, 189); sie zeigt sich in der +Universalisierung und Globalisierung der dem Kapitalverhltnis +eigenen Produktions- und Zirkulationsformen; und nicht zuletzt +in der massiven Expansion der experimentellen Wissenschaften, +die immer tiefer in die Infrastrukturen der Materie +intervenieren und lngst keine Grenzen mehr kennen. Nicht da +dem Postmodernismus dies vllig entginge. Aber die forcierte, +wie immer auch inzwischen zurckgenommene oder relativierte +Behauptung einer Postmoderne, eines Zustands also jenseits der +fr die Moderne typischen Totalisierung, deutet auf eine +Verharmlosung, die nicht anders als leichtfertig bezeichnet +werden kann. Wer fr ein 'Denken des Genusses' eintritt (Vattimo +1990, 192), mag dies tun, er drckt damit ohnehin nur die +herrschende Orientierung aus. Er sollte aber nicht die Illusion +verbreiten, es handle sich um mehr als den Genu von +Henkersmahlzeiten. Das Ende der Moderne wird nicht der Aufgang +der Postmoderne sein, sondern das Ende der Welt, genauer: der +bewohnbaren Welt. +S +SSo jedenfalls legt es die dialektische Denkbewegung nahe, die +das Verhltnis von Erscheinen und Verschwinden ganz anders fat +als der Postmodernismus. Whrend der letztere das Signum der +Epoche im Verschwinden der Einheit und im Erscheinen +vermittlungsloser Vielfalt sieht, insistiert das dialektische +Denken seit Hegel darauf, da die unvermittelte Vielfalt +verschwindet und von einer absoluten, in sich differenzierten +Einheit abgelst wird. Die Hegelsche Logik analysiert die +Bewegung vom scheinenden zum erscheinenden Wesen, in deren +Verlauf die dem Wesen eigenen Bestimmungen als reale und +selbstndige Vermittlungen in die Existenz treten; die +Geschichtsphilosophie bersetzt diesen Gedanken in einen +historischen Proze, dessen markanteste Stationen das Erscheinen +des Gttlichen in Christo und die Realisierung der Vernunft im +modernen Staate sind. Marx uerte hieran berechtigte Zweifel +und verschob die wahre Vershnung auf den Sozialismus. Am +Grundgedanken hielt er nichtsdestoweniger fest. Auch fr ihn ist +die Heterogenitt der modernen Gesellschaft - die 'Konkurrenz' - +nichts Neues oder Eigenstndiges gegenber dem Wesen, sondern +dessen Erscheinungsform. Denn das Wesen der modernen +Gesellschaft - das Wertgesetz - besteht gerade darin, als +Negation seiner selbst zu erscheinen, so da der Erscheinung der +Schein von Selbstndigkeit zukommt. "Innerhalb des +Wertverhltnisses und des darin einbegriffenen Wertausdrucks +gilt das abstrakt Allgemeine nicht als Eigenschaft des +Konkreten, Sinnlich-Wirklichen, sondern umgekehrt das Sinnlich- +Konkrete als bloe Erscheinungs- oder bestimmte +Verwirklichungsform des Abstrakt-Allgemeinen (...). Diese +Verkehrung, wodurch das Sinnlich-Konkrete nur als +Erscheinungsform des Abstrakt-Allgemeinen, nicht das Abstrakt- +Allgemeine umgekehrt als Eigenschaft des Konkreten gilt, +charakterisiert den Wertausdruck" (Marx 1867, 771). +S +SDiese Konzeption ist festzuhalten, weil sich nur mit ihrer Hilfe +Einsicht in die komplizierte Architektur der modernen +Gesellschaft gewinnen lt. Sie ist aber zugleich zu +modifizieren, weil Marx, darin ganz Kind des 19. Jhs., die +selbstzerstrischen Zge der Wertvergesellschaftung +unterschtzte. Gewi, Marx sah genau, da die kapitalistische +Produktionsweise die "Springquellen allen Reichtums untergrbt: +die Erde und den Arbeiter" (MEW 23, 530). Er erkannte ferner mit +einer Klarheit wie niemand vor ihm, welches selbstnegatorische +Potential mit dem wachsenden Widerspruch zwischen notwendiger +und berflssiger Arbeitszeit entsteht (Marx 1974, 592ff.). +Indes war er felsenfest davon berzeugt, da, wenn schon nicht +das Kapital, so doch die Menschheit imstande sein wrde, sich +wie Mnchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Der +Speer, der die Wunde schlug - die Wissenschaft - galt ihm als +poena et remedium peccati. Wenn die verwissenschaftlichte +Produktion unter kapitalistischen Bedingungen den Stoffwechsel +zwischen Mensch und Erde strte, so zwang sie doch zugleich +"durch die Zerstrung der blo naturwchsig entstandnen Umstnde +jenes Stoffwechsels, ihn systematisch als regelndes Gesetz der +gesellschaftlichen Produktion und in einer der vollen +menschlichen Entwicklung adquaten Form herzustellen" (MEW 23, +528). Wenn sie die Arbeitsmittel in "Unterjochungsmittel, +Exploitationsmittel und Verarmungsmittel des Arbeiters" +verwandelte und die "gesellschaftliche Kombination der +Arbeitsprozesse als organisierte Unterdrckung seiner +individuellen Lebendigkeit, Freiheit und Selbstndigkeit" +betrieb (ebd. 528f.), so folgte sie damit nur einer geheimen +Logik, die das, was sie den Individuen nahm, der Gattung in +tausendfach vergrerter Form zurckerstattete. Fr Marx war die +kapitalistische Modernisierung, wie fr die meisten brgerlichen +Denker, ein antientropischer Proze, der, von partiellen +Rckfllen abgesehen, mit Naturnotwendigkeit zu hheren +Ordnungen fhrte - und zwar deshalb, weil sich hinter dem Wesen +'Kapital' noch ein weit umfassenderes Wesen befand: die +Menschheit. Was immer die Althusser-Schule an Gegenargumenten +gebracht hat: Marx hat, soweit er Revolutionstheoretiker sein +wollte, den anthropologischen Diskurs niemals verlassen. +S +SDer anthropologische Diskurs aber macht blind. Er zwingt dazu, +die Bewegung des Scheins als eine Scheinbewegung anzusehen und +die mit ihr verbundenen Zerstrungen in Fortschritte umzudeuten. +Erst wenn Klarheit darber besteht, da das Kapitalverhltnis +nicht das Werkzeug oder der Wegbereiter eines sich in der +Geschichte entfaltenden Absolutums - der menschlichen Gattung - +ist, sondern selbst das Absolute, erst dann werden die Folgen +seiner Expansion als das erkennbar, was sie sind: Momente einer +beispiellosen Verheerung und Verwstung, die zeitlich und +rumlich begrenzte Ordnungsgewinne mit einer Steigerung der +Unordnung in der Umgebung erkauft. Erst dann kann aber auch +deutlich werden, da dieses Absolute - die von allen +Umweltbezgen abgelste 'reine Gesellschaft' - nur auf Zeit +existiert, da es im gleichen Mae, in dem es sich ausdehnt, die +Bedingungen seiner Existenz zerstrt. Wir sind schon zu tief in +diesen Proze verstrickt, um an seiner Grundrichtung noch etwas +ndern zu knnen. Das Bewutsein darber, da die Gesellschaft +des Erscheinens in Wahrheit eine Gesellschaft des Verschwindens +ist, knnte aber vielleicht dazu beitragen, das Tempo des +Erscheinens (und damit auch: des Verschwindens) zu verlangsamen. +Die Transformation der Anthropologie in Entropologie, wie sie +Claude Lvi-Strauss schon vor langer Zeit gefordert hat, wre +dazu ein erster Schritt: +S +S"Die Welt hat ohne den Menschen begonnen und wird ohne ihn enden. Die Institutionen, die Sitten und Gebruche, die +ich mein Leben lang gesammelt und zu verstehen versucht habe, sind die vergnglichen Blten einer Schpfung, im +Verhltnis zu der sie keinen Sinn besitzen; sie erlauben bestenfalls der Menschheit, ihre Rolle im Rahmen dieser +Schpfung zu spielen. Abgesehen davon, da diese Rolle dem Menschen keinen unabhngigen Platz verschafft und +da sein berdies zum Scheitern verurteiltes Bemhen darin besteht, sich vergeblich gegen den universalen Verfall zu +wehren, erscheint der Mensch selbst als Maschine - vollkommener vielleicht als die brigen -, die an der Auflsung einer +ursprnglichen Ordnung arbeitet und damit die organisierte Materie in einen Zustand der Trgheit versetzt, der eines +Tages endgltig sein wird. Seitdem der Mensch zu atmen und sich zu erhalten begonnen hat, seit der Entdeckung des +Feuers bis zur Erfindung der atomaren Vorrichtungen, hat er - auer wenn er sich fortgepflanzt hat - nichts anderes getan +als Millionen von Strukturen zerstrt, die niemals mehr integriert werden knnen ... Statt Anthropologie sollte es +Entropologie heien, der Name einer Disziplin, die sich damit beschftigt, den Proze der Desintegration in seinen +hchsten Erscheinungsformen zu untersuchen" (Lvi-Strauss 1970, 366f.). +S +SDie in diesem Band gesammelten Studien suchen die Mglickeit +einer solchen dialektischen Entropologie auszuloten. Dies +geschieht in einem eher indirekten Verfahren, das den neuerdings +so gern erhobenen apokalyptischen Tonfall so weit wie mglich zu +temperieren bemht ist - nicht aus einer Skepsis gegen den +apokalyptischen Gedanken als solchen (fr den die Kritiker in +diesem Buch gengend Belege finden werden), sondern aus +Abneigung gegen die wohlfeile Instrumentalisierung, die er in +der Regel erfhrt. Ist von der Apokalypse die Rede, so selten +ohne den Verweis auf die Rettung, auf den neuen positiven +Zustand, der durch allerlei Patentrezepte herbeigefhrt werden +soll: durch weniger Konsum und mehr Spiritualitt, weniger +Wachstum und mehr Kommunikation mit dem Bruder Regenwurm: vom +Erhabenen zum Lcherlichen, man wei es, ist nur ein Schritt. +Die Kritische Theorie hatte gute Grnde, als sie sich weigerte, +positiv zu werden und statt dessen darauf bestand, das Gemeinte +nur indirekt, auf dem Wege der Kritik, zur Sprache zu bringen. +S +SDie Kritik ist doppelgleisig angelegt. Auf der einen Seite +verteidigt sie die Idee einer Gesellschaft des Verschwindens +gegenber Konzeptionen, die den Proze der Modernisierung +einseitig als Zivilisierung (Elias), als Disziplinierung +(Foucault) oder als funktionale Differenzierung (Luhmann) +darstellen. Auf der anderen Seite greift sie verwandte +Intentionen auf und versucht sie weiterzuentwickeln: Adornos +Logik des Zerfalls oder Virilios These vom Nihilismus der +Geschwindigkeit. Hierzu gehrt auch die Erinnerung an einen zu +Unrecht vergessenen Autor, der als einer der ersten Technik und +Entropie in Zusammenhang gebracht hat und deshalb als der +'eigentliche Vater der kologischen Bewegung' (Mohler) +bezeichnet worden ist - Friedrich Georg Jnger. Das Zentrum, um +das die verschiedenen Studien kreisen, erschliet sich am +leichtesten ber den Essay 'Technik und Wissenschaft als +Hierophanie'. +S +SPA +SDie Entwicklungskurve der Zivilisation. +SEine Auseinandersetzung mit Norbert Elias +S +S +S +S +S +S +SDa der historische Proze nicht blo aus isolierten Ereignissen +und Bruchstcken besteht, sondern einen bergreifenden Sinn zur +Erscheinung bringt, gehrt zu den ides directrices des +abendlndischen Denkens. Wurde dieser Sinn unter der +Vorherrschaft christlicher berzeugungen lange Zeit als +Heilsgeschehen bestimmt, so rckte mit der Aufklrung der +Begriff der 'Zivilisation' in den Vordergrund. Mit ihm wurden +zwei verschiedene Vorstellungen zusammengebracht: zum einen der +Gedanke einer allmhlichen Sittenverfeinerung - l'adoucissement +des moeurs im Sinne Mirabeaus des lteren; zum andern der +Gedanke eines stufenweise sich vollziehenden geistigen und +materiellen Fortschritts, wie er etwa in Frankreich den +Entwrfen Raynals und Condorcets, spter den Theorien Saint- +Simons, Comtes oder Guizots zugrundelag (Moras 1930). So sah es +auch die englische Sozialphilosophie, die, nachdem sie noch im +18. Jh. zwischen dem Fortschritt der Hflichkeit und +Zivilisation und demjenigen der kommerziellen Knste +unterschieden hatte (Ferguson 1986, 366), im 19. Jh. beide +Linien zusammenzog und den Fortschritt der Zivilisation nunmehr +im bergang von kriegerischen, durch Zwang integrierten +Gesellschaften zu industriell-gewerblichen Aggregaten sah, die +einem Zustand dauernden Friedens entgegenstrebten (Spencer 1887, +II, 124ff., 180). Nichts illustriert die berzeugungskraft +dieser Vorstellung besser als die Tatsache, da selbst ein Marx, +der die "tiefe Heuchelei der brgerlichen Zivilisation und die +von ihr nicht zu trennende Barbarei" brandmarkte (MEW 9, 225), +keine Schwierigkeiten hatte, vom "great civilizing influence of +capital" zu sprechen und als dessen Hauptmerkmal die Umwandlung +der Produktion in ein "System der allgemeinen Ntzlichkeit" +herauszustellen, "als dessen Trger die Wissenschaft selbst so +gut erscheint wie alle physischen und geistigen Eigenschaften" +(MEW 42, 323). +S +SIm 20. Jh. ist der Chor der Skeptiker, die diese +Selbstbeglckwnschung der Moderne nicht mehr akzeptieren, immer +lauter geworden. Die Bedenken richten sich, wie in anderen +Texten dieses Bandes deutlich wird, gegen die objektiven Aspekte +des sogenannten Zivilisationsprozesses, insbesondere gegen die +Vorstellung einer kumulativen Steigerung von Reichtum und +Ordnung. Sie richten sich aber auch, worauf im folgenden vor +allem der Akzent gelegt wird, auf die subjektiven Aspekte, die +Idee des perfectionnment de l'homme (Condorcet). Stand die +Kritische Theorie noch weitgehend allein, als sie in den +vierziger und fnfziger Jahren im Verfall der Konventionen, im +Absterben des zeremoniellen Moments und im Niedergang von +Hflichkeit und Takt Indizien fr den "Zerfallscharakter der +Zivilisation" ausmachte (vgl. Adorno, GS 4, 38ff.; ders. 1956, +87), so mehren sich heute die Stimmen, die darin nicht blo den +Ausdruck einer elitren Kulturkritik sehen. So konstatiert +Richard Sennett eine allgemeine Tendenz zur Zunahme von +"Unzivilisiertheit", die sich in Distanzverlust, +Selbstbezogenheit und einer alle sozialen Beziehungen +berwuchernden "Tyrannei der Intimitt" manifestiere (Sennett +1983, 299). Neil Postman spricht vom "Verfall der civilit" und +einer "allgemeinen Miachtung der fr Zusammenknfte im +ffentlichen Raum geltenden Regeln und Rituale" (Postman 1983, +151). In einem anderen vieldiskutierten Buch ist gar von einer +"sterbenden Zivilisation" die Rede, in welcher das Leben immer +barbarischer und kriegshnlicher werde (Lasch 1986, 261, 47). +Paul Virilio endlich meint: "Das fortschreitende Verschwinden +der Hflichkeit, die selber eine gespielte Aufnahme, einen +Ersatz der primitiven Gastfreundschaft darstellte, uert sich +heute in einer virilen Form von Kontakt, die man 'Offenheit' +nennt, und mag letzten Endes zum gewohnheitsmigen Austausch +schlechter Behandlung fhren" (Virilio 1978, 37). +S +SOb diese Diagnosen richtig sind, wird sich sicher nur in +sorgfltigen empirischen Untersuchungen erweisen lassen. Bis +dahin aber, und vielleicht als Vorbereitung dazu, mag es +ntzlich sein, sich mit der Exposition zu befassen, die der +Zivilisationsbegriff in der bislang grndlichsten Studie zu +diesem Thema erfahren hat: Norbert Elias' Buch 'ber den Proze +der Zivilisation'. Ich will im folgenden zunchst die +wichtigsten Argumente dieses Buches skizzieren und dann einige +Einwnde vorstellen, die sich heute, ein halbes Jahrhundert nach +Erscheinen der ersten Auflage, aufdrngen. Abschlieend mchte +ich die Frage errtern, ob der Zivilisationsbegriff in der ihm +von Elias verliehenen Fassung ein Konzept ist, in dem sich die +Problemlage der modernen Gesellschaft reflektieren lt. +S +S +S +S +S +S +AABI +S +S +SElias' Untersuchung beginnt mit begriffsgeschichtlichen +Erwgungen. Zivilisation, so der erste Befund, bedeutet im +deutschen Sprachraum etwas anderes als in Westeuropa, namentlich +Frankreich und England. Whrend der Begriff dort als Bezeichnung +fr den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und +geistigen Fortschritt insgesamt dient, hat er im Deutschen nur +einen eingeschrnkten Inhalt. Zivilisation ist hier ein Wert +zweiten Ranges, eine Qualitt, die sich lediglich auf das +uere, die Oberflche des Daseins bezieht. Die Bildung des +Inneren dagegen, der Fortschritt auf geistigem und seelischem +Gebiet, wird mit dem Begriff 'Kultur' belegt. Was in anderen +Lndern des Abendlands als einheitliche und kontinuierliche +Bewegung erscheint, zerfllt damit in Deutschland in zwei +unterschiedliche Dimensionen, die sich zuweilen zum +antithetischen Gegensatz verschrfen. Der Westen, lautet ein +wichtiger Glaubenssatz der deutschen Ideologie bis hin zu den +'Ideen von 1914', habe nur Zivilisation, wohingegen es die +Deutschen bis zur Kultur gebracht htten. +S +SDa Elias sich dafr entscheidet, die deutsche Version als +Ausnahme zu behandeln und nicht weiter zu verfolgen, hngt mit +seinen Vorstellungen ber die in der gesellschaftlichen +Entwicklung zu bewltigenden Aufgaben zusammen. Diese +Vorstellungen sind deutlich von der Soziologie des 19. Jhs., +insbesondere von Comte und Spencer, beeinflut. Wie der letztere +sieht Elias die gesellschaftliche Entwicklung als Teil einer +allgemeinen Evolution, die neben der berorganischen noch die +organische und unorganische Entwicklung umfat und durch das +Wechselspiel von Differenzierung und Integration vorangetrieben +wird. Wie der erstere identifiziert er die +Funktionsdifferenzierung mit der wirtschaftlichen Berufsteilung, +die koordinierenden und integrierenden Institutionen mit dem +Staat1. Eine Hierarchie dieser beiden Dimensionen kennt Elias +nicht. Fr ihn handelt es sich um prinzipiell gleichrangige +Erscheinungen, die jeweils unterschiedliche Aspekte ein und +desselben Substrats darstellen - der Gesellschaft. Da er indes +den Integrationsinstanzen die Fhigkeit zuspricht, die +funktionsteiligen Prozesse "bis zu einem gewissen Grade (zu) +steuern" (1971, 47)2, verschiebt sich der Fokus seiner Theorie +stark auf die Integrationsebene, auf die Entstehung und +Entwicklung jener Institutionen, die ber ein besonders hohes +Steuerungspotential verfgen - die politischen Zentralorgane +bzw., wie Elias mit Weber formuliert: die Monopolorganisationen +physischer Gewaltsamkeit. +S +SIn dieser Vorentscheidung auf analytischer Ebene liegt die +Wurzel der regulativen Idee von Elias' Zivilisationstheorie, der +"Vermutung..., da der Aufbau des 'zivilisierten' Verhaltens +aufs engste mit der Organisierung der abendlndischen +Gesellschaften in der Form von 'Staaten' zusammenhngt (I, +LXXVI). Je fortgeschrittener in einem bestimmten Gebiet die +Staatsbildung, desto fortgeschrittener auch der Proze der +Zivilisation; je unentwickelter andererseits die +Zentralisierung, desto unentwickelter die Sitten, desto +unvollendeter "jene Nivellierung und Angleichung der +gesellschaftlichen Standarde (...), die fr diesen ganzen +Zivilisationsproze charakteristisch ist" (II, 433). + Deutschland, das seit dem spten Mittelalter keinen Fortschritt +im Ausbau seiner zentralstaatlichen Institutionen mehr erlebte, +ist aus diesem Grund fr die Untersuchung des +Zivilisationsprozesses weniger geeignet als etwa Frankreich, in +dem diese Institutionen eine kontinuierliche Verstrkung +erfuhren3. +S +SDen Ausbau des Zentralstaates in Frankreich unterteilt Elias in +drei Etappen. Die erste Etappe fllt zusammen mit der Bildung +ritterlicher Hfe zu Beginn des Hochmittelalters, welche die bis +dahin in der weltlichen Herrenschicht dominierende Integration +qua Kampf durch eine friedlichere und bestndigere Integration +ersetzen. Auf diese 'ritterlich-hfische' Ordnung folgt im 16. +Jh. die zweite Etappe, die 'hfisch-absolutistische +Gesellschaft', die wohl im sozialen Aufbau noch an die +stndische Gliederung des Mittelalters anknpft, auf politischer +Ebene aber insofern eine nderung herbeifhrt, als sie die +physische Gewalt in einer Monopolinstanz konzentriert. Die alte +Kriegerelite wird nunmehr entmilitarisiert und in einen Hofadel +verwandelt, was wiederum auf sozialer und wirtschaftlicher Ebene +die Bildung lngerer und komplexerer Interdependenzketten +ermglicht. Die funktionale Differenzierung beschleunigt sich +und lt neue, auf Beruf und produktiver Leistung beruhende +Eliten entstehen, die ihrerseits nach Partizipation an den +Entscheidungen des obersten Koordinations- und +Regulierungsorgans streben. +S +SAus dieser Entwicklung geht - nach der Zwischenstufe einer +'erweiterten hfischen Gesellschaft', in der hfisch- +aristokratische und hfisch-brgerliche Kreise miteinander +verkehren - das dritte und bisher letzte Stadium hervor: der +brgerliche Nationalstaat. In ihm erreichen die Funktionsteilung +und die allgemeine Interdependenz eine bis dahin unvorstellbare +Dichte. Zugleich ist die Vernetzung soweit vorangeschritten, da +die private Monopolisierung der mit der Zentralposition +verbundenen Chancen nicht lnger perpetuierbar ist. Das +Privatmonopol einzelner, schreibt Elias, vergesellschaftet sich +und wird "zu einer Funktion des interdependenten +Menschengeflechts als eines Ganzen", zu einem "ffentlichen" +Monopol (II, 157). Darber hinaus zeichnen sich bereits Anstze +zu einer vierten, endgltig letzten Phase der Gesamtentwicklung +ab: +S +S"Man sieht die ersten Umrisse eines erdumfassenden Spannungssystems von +Staatenbnden, von berstaatlichen Einheiten verschiedener Art, Vorspiele von +Ausscheidungs- und Vormachtkmpfen ber die ganze Erde hin, Voraussetzung fr +die Bildung eines irdischen Gewaltmonopols, eines politischen +Zentralinstituts der Erde und damit auch fr deren Pazifizierung" (II, 452). +S +SDen hier nur knapp skizzierten Stadien der Zentralisierung +ordnet Elias nun verschiedene Verhaltensmodelle oder -schemata +zu, die gleichsam den subjektiven Niederschlag dieses Prozesses +verkrpern. Der polyzentrischen Struktur des Mittelalters +entspricht das Schema der courtoisie, das sich an den groen +ritterlichen Feudalhfen bildet (I, 79, 136; II, 96ff., 109ff., +354ff.). Seine Merkmale sind: eine gewisse Migung der Affekte, +eine, freilich noch sehr begrenzte, Aufwertung derjenigen, die +nicht ber Gewaltmittel verfgen (vor allem der Frauen), die +Ausbildung hfischer Manieren, die das gesellige Verhalten bei +Tisch, beim Spiel oder im Turnier regeln, die Orientierung an +ritterlichen Tugenden, wie sie vor allem von der Kirche (miles +christianus-Ideal), aber auch von der weltlichen Dichtung +propagiert werden (Artusepik)4. +S +SWhrend dieses Schema den Individuen jedoch noch uerlich +bleibt und auerhalb des Interaktionszentrums 'Hof' rasch seine +Wirkung verliert, verdichtet sich die soziale Kontrolle mit dem +bergang zu einer monozentrischen, auf dem Gewaltmonopol +beruhenden Konfiguration. Anstelle der blo intermittierenden, +nur einen kleinen Teil der ritterlichen Existenz erfassenden +courtoisie tritt jetzt ein neues Schema der Affektregulierung, +das Elias im Anschlu an die Manierenschriften von Erasmus, +della Casa, La Salle u.a. als civilit bezeichnet (I, 65ff., +89f., 136f.). Der durch die politische, soziale und +wirtschaftliche Entwicklung in seiner Herrschaftsposition +erschtterte Adel versucht in dieser Phase, seinen Platz an der +Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie durch einen verstrkten +Einsatz von Distinktionsstrategien zu behaupten. Ein strenger +Verhaltenscode entsteht, der mehr und mehr den gesamten Habitus +umfat. Die hfische Interaktion, vor allem das Essen und die +Konversation, wird stark ritualisiert, wie Elias anschaulich an +der Geschichte des Messer- und Gabelrituals demonstriert. Die +Kleidung wird bewut als Unterscheidungs- und Prestigemittel +eingesetzt, ebenso die Gestik und der sprachliche Ausdruck. +Fragen des guten Benehmens und des richtigen Geschmacks werden +zu Fragen, die ber den Platz in der Rangordnung entscheiden +knnen; Takt, Delikatesse und Stil zu Formen, von denen das +soziale berleben abhngen kann. Selbst- und Fremdbeobachtung +erreichen eine bis dahin unbekannte Intensitt, die +psychologische Kriegfhrung wird zur unentbehrlichen Waffe in +der Prestigekonkurrenz. +S +SAuch dieses neue, im Vergleich zur courtoisie ungleich strengere Schema der Affektmodellierung ist jedoch nach Elias in +der Psychostruktur noch nicht sehr fest verankert. Die Tabus und Rituale des hfischen Lebens treten dem einzelnen wohl +als klar umrissene Imperative entgegen, die ihn zu einer permanenten berwachung seiner Affekte und Triebregungen +veranlassen. Diese aber erfolgt hauptschlich ber eine bewute Selbststeuerung, psychoanalytisch gesprochen ber +Ich-Leistungen (Vowinckel 1983, 196). Der Hofmann mu, wie bei Castiglione nachzulesen, seine unterschiedlichen +Fhigkeiten so ausbalancieren, da er zu einer Art vollkommenen Gesamtkunstwerks wird; er mu, wie bei Gracian, +seine Leidenschaften bewut domestizieren, jedoch nicht, um sie abzutten, sondern um sie im geeignetsten Moment +zu befriedigen (ebd. 95). Die soziale Kontrolle vollzieht sich deshalb noch primr ber die Vermittlung des Ichs, das sich +den Zwngen der sozialen Umwelt anpat, aber keineswegs vllig ausliefert. Sie bleibt dem einzelnen uerlich, wirkt +"noch nicht als automatisch funktionierender Selbstzwang, als Gewohnheit, die bis zu gewissen Grenzen auch +funktioniert, wenn der Mensch allein ist; sondern man legt sich hier zunchst immer jemandem andern gegenber, also +bewuter aus gesellschaftlichen Grnden, Triebverzicht und Zurckhaltung auf. Und die Art der Zurckhaltung, wie ihr +Ma entsprechen hier der sozialen Stellung dessen oder derer, denen gegenber er sie sich auferlegt" (I, 186). Im +Stadium der civilit ist die gesellschaftliche Verflechtung schon so stark, um die einzelnen zur Anpassung zu zwingen, +aber noch nicht stark genug, um die Einzelheit als solche zu negieren und in einen 'Verkehrsknotenpunkt des +Allgemeinen' (Horkheimer/Adorno) zu verwandeln. +S +SWesentlich weiter in dieser Richtung geht das Schema der +civilisation, das in der zweiten Hlfte des 18. Jhs. die +civilit ablst (I, 47ff.). Getragen von den Reformgruppen des +Ancien Rgime - dem Beamtentum und den Spitzen des Brgertums - +zielt dieses Schema auf eine Universalisierung und +Stabilisierung der mit der civilit bereits erreichten +Sittenverfeinerung und Rationalitt. Die Universalisierung +impliziert die Ausdehnung der Vernunft auf die Gesetze und +Institutionen des Landes sowie auf die Sitten der gesamten +Nation. Elias spricht von einer Einschmelzung von +Verhaltensweisen der funktional oberen Schichten in das der +aufsteigenden unteren und rckt diesen Vorgang in die Nhe von +Kolonisationsprozessen. So wie im 19. Jh. die abendlndischen +Nationen die auereuropische Welt unterworfen und okzidentalen +Denk- und Verhaltensmustern assimiliert htten, seien zuvor im +Abendland selbst die Unter- und Mittelschichten den Standards +der Oberschichten unterworfen und assimiliert worden (II, 341, +346, 350, 420f.) +S +SDie Stabilisierung impliziert die Verfestigung der zivilisierten +Verhaltensformen zu einem 'Panzer', der die ganze Persnlichkeit +und jede ihrer uerungen umschliet (I, 332). Dies wird durch +eine bereits in der frhesten Kindheit einsetzende +Konditionierung erreicht, die darauf hinarbeitet, da sich im +einzelnen "gleichsam als eine Relaisstation der +gesellschaftlichen Standarde, eine automatische +Selbstberwachung der Triebe im Sinne der jeweiligen +gesellschaftsblichen Schemata und Modelle, eine 'Vernunft', ein +differenziertes und stabileres 'ber-Ich' herausbildet, und da +ein Teil der zurckgehaltenen Triebregungen und Neigungen ihm +berhaupt nicht mehr unmittelbar zum Bewutsein kommt" (II, +329). In diesem Sinne erfllt das ber-Ich in der brgerlichen +Gesellschaft die Steuerungsfunktionen, die in der hfischen +Gesellschaft noch dem Ich vorbehalten waren. +S +SElias bersieht nicht die Unterschiede zwischen diesen beiden +Formen der Steuerung. Im Rahmen seiner Konstruktion eines +kontinuierlich verlaufenden Zivilisationsprozesses interpretiert +er ihre Abfolge jedoch primr als eine Steigerung der sozialen +und psychischen Integration durch Tieferlegung der +Kontrollmechanismen. Jene Zwnge, die im Schema der courtoisie +und der civilit vielfach nur als uere Schranke, als +Fremdzwang wirkten, werden jetzt verinnerlicht, mit der +Perspektive, da dadurch der Fremdzwang zunehmend entbehrlich +wird und irgendwann einmal ganz verschwinden kann (1983, 123f.). +Wie diese, freilich erst nach Vollendung der Pazifizierung auf +Weltebene denkbare, neue Form der Selbststeuerung beschaffen +sein knnte, verrt Elias nicht. Da die Entwicklung in diese +Richtung geht, erscheint ihm aber als ebenso ausgemacht wie die +Tendenz zur berwindung des brgerlichen Nationalstaates (1987, +224f.). Sind einmal die zwischenstaatlichen Spannungen +beseitigt, so die an Kants Vision vom 'Ewigen Frieden' +erinnernde Schlupassage des Zivilisationsbuches, kann sich die +Regelung der sozialen Beziehungen auf das rein sachlich +Notwendige beschrnken, und knnen sich die Spannungen und +Widersprche auch in den Menschen selbst mildern. Dann erst +braucht es nicht mehr die Ausnahme, sondern +S +S"kann es die Regel sein, da der einzelne Mensch jenes optimale Gleichgewicht seiner Seele findet, das wir so oft mit +groen Worten, wie 'Glck' und 'Freiheit' beschwren: ein dauerhaftes Gleichgewicht oder gar den Einklang zwischen +seinen gesellschaftlichen Aufgaben, zwischen den gesamten Anforderungen seiner sozialen Existenz auf der einen Seite +und seinen persnlichen Neigungen und Bedrfnissen auf der anderen" (II, 454. Hervorh. i.O. gestr.). +S +SDie groe Linie ist damit klar. Zivilisation ist fr Elias ein +Proze, in dessen Verlauf sich immer strengere Schemata der +Selbstkontrolle herausbilden und sowohl immer weitere +Bevlkerungskreise ergreifen als auch psychostrukturell immer +tiefer gelagert werden. Dieser Proze ist die subjektive Seite +eines gesamtgesellschaftlichen Differenzierungs- und +Integrationsvorgangs, der zu einer immer perfekteren Kontrolle +der Gesellschaft ber die Naturbedingungen ihres berlebens wie +ber die Bedingungen des sozialen Zusammenlebens fhrt5. Elias +verschweigt nicht den Preis, den die Individuen dafr zahlen +mssen: die permanente Konditionierung, die Verdrngung und +Ansthesierung von Triebregungen, den Aufbau von inneren +ngsten, die Wahrscheinlichkeit der neurotischen Erkrankung. +Insgesamt sieht er aber diese Kosten mehr als aufgewogen durch +die Distanzierungs- und Steuerungsgewinne, die dem einzelnen +sowohl als der Gesellschaft in diesem Proze zuwachsen. Etwas +vereinfacht lt sich dieser Proze in dem folgenden Schema +darstellen: +S +S +S +S +AABSoziogenese Ritterlich Hfisch- Brgerlich ' Welt'- + hfische absolu- indu- gesell- + Gesell- tistische strielle schaft + schaft Gesell- Gesell- + schaft schaft + + + +Steuerungs- Feudalhof Absoluti- National- Weltstaat +Zentrum stischer Staat + Staat + + +Verhaltens- courtoisie civilit civilisa- Weltzivi- +Code tion lisation + + +Psychogenese Es/Ich Ich-Domi- ber-Ich- Gleichge- + (undiffe- nanz Dominanz wicht von + ziert) Ich, Es, + ber-Ich + + +PA +II +S +S +AAF 1. Auch der voreingenommene Betrachter wird zugestehen, da Elias' +Rekonstruktion des Zivilisationsprozesses groe Strken hat. Der +figurationssoziologische Ansatz trgt politischen, konomischen und +psychologischen Faktoren gleichermaen Rechnung und gelangt damit zu +einem breit angelegten Panorama der zivilisatorischen Entwicklung. Die +konstitutive Rolle der Hfe in der ritterlich-feudalen und +absolutistischen Gesellschaft wird einleuchtend begrndet, die Bildung +von Gewalt- und Abgabenmonopolen schlssig nachgezeichnet; lediglich +die Rolle der Religion wird zu wenig beachtet, was mglicherweise bei +vergleichenden Untersuchungen ein Nachteil sein knnte. Zu den +Glanzstcken des Buches gehrt die Herausarbeitung des Parallelismus +von Soziogenese und Psychogenese, mit der gleichsam eine Brcke +zwischen der Herrschaftssoziologie Webers, der Differenzierungstheorie +in der Tradition Durkheims und Spencers und der Freudschen +Psychoanalyse geschlagen wird. + + Dennoch drngen sich bei einer genaueren Betrachtung drei Einwnde +auf, die zwar aus unterschiedlichen theoretischen Zusammenhngen +stammen, gleichwohl miteinander kompatibel sind6. + + Der erste Einwand ergibt sich aus der dialektischen Theorie und +richtet sich gegen den soziogenetischen Strang der +Zivilisationstheorie. Elias, so erscheint es aus dieser Sicht, hat nur +eine unzureichende Vorstellung von den Integrationsproblemen, die mit +einem bestimmten Grad der Funktionsdifferenzierung auftreten. Seine +These, da die Entwicklung zur modernen Gesellschaft von einer immer +"strafferen Regulierung und berwachung des gesamten +gesellschaftlichen Verkehrs von stabilen Zentralen" aus begleitet sei +(II, 227), bersieht, da ein durch kapitalistische Warenproduktion +bestimmtes System nicht direkt durch die Vorgaben eines planenden +Zentrums, sondern nur indirekt durch die Vermittlung des Marktes +gesteuert wird. Das, was ihre Arbeiten gesellschaftlich gelten, +erfahren die - individuellen oder korporativen - Produzenten immer nur +post festum, in der Besttigung ihrer Produkte als Wertgren, die +erst nach Abschlu der Produktion, im Austausch, mglich ist. Hier +jedoch gilt, + + "da die unabhngig voneinander betriebenen, aber als naturwchsige Glieder der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit +allseitig voneinander abhngigen Privatarbeiten fortwhrend auf ihr gesellschaftlich proportionelles Ma reduziert werden, weil +sich in den zuflligen und stets schwankenden Austauschverhltnissen ihrer Produkte die zu deren Produktion gesellschaftlich +notwendige Arbeitszeit als regelndes Naturgesetz gewaltsam durchsetzt, wie etwa das Gesetz der Schwere, wenn einem das Haus +ber dem Kopf zusammenpurzelt" (Marx, MEW 23, 89). +AAF + Unter diesen Umstnden ist es eine sehr verkrzte +Betrachtungsweise, wenn man, wie Elias, Unberechenbarkeit und Willkr +primr in der physischen Gewaltsamkeit lokalisiert und aus der +unbestreitbaren Tatsache ihrer Kasernierung im modernen Staat auf eine +Zunahme der gesamtgesellschaftlichen Stabilitt und Kalkulierbarkeit +schliet. Auch und gerade nach der Bildung von Gewaltmonopolen auf dem +Territorium einzelner 'Staatsgesellschaften' bleibt mit dem nationalen +Binnenmarkt und dem Weltmarkt eine Dimension des Zufalls und der +Anarchie, die sich individuellen Handlungskalklen grundstzlich +entzieht. Und obschon dies keineswegs bedeutet, da es die brgerlich- +industrielle Gesellschaft nicht zu Einheit und Integration zu bringen +vermag, heit es doch immerhin, da sich diese Einheit und Integration +"nur a posteriori als innre, stumme, im Barometerwechsel der +Marktpreise wahrnehmbare, die regellose Willkr der Warenproduzenten +berwltigende Naturnotwendigkeit" durchsetzt. Elias hat recht, wenn +er darauf hinweist, da die Kasernierung der politischen Gewalt einen +wichtigen Schritt zur berwindung des Naturzustands darstellt. Er +vergit jedoch hinzuzufgen, da sich dieser Naturzustand unter +brgerlichen Produktionsbedingungen in anderer Form wiederherstellt: +gewhrleistet doch die Konkurrenz die Existenz der Individuen nur auf +die Weise, "wie auch im Tierreich das bellum omnium contra omnes die +Existenzbedingungen aller Arten mehr oder minder erhlt" (ebd. 377). + + Diese berlegung zwingt dazu, einen der Eckpfeiler von Elias' +Konstruktion zu problematisieren: die Idee eines Kontinuums der +Vergesellschaftung, das sich von der ritterlich-hfischen ber die +hfisch-absolutistische bis hin zur brgerlich-industriellen +Gesellschaft erstreckt. Wohl lt sich die Entwicklung von den +feudalen Minnehfen zu den Residenzen des Barockzeitalters unter dem +Blickwinkel einer Verdichtung und Intensivierung hfischen Lebens +begreifen, und kann die Ausbildung einer 'guten Gesellschaft' verfolgt +werden, deren Auslufer bis in die brgerlichen Salons des 19. Jhs. +reichen. Diese Art der sozialen Verknpfung, die im wesentlichen auf +Interaktion, d.h. auf Kommunikation unter Anwesenden beruht, mu indes +strikt von dem Vergesellschaftungsmodus getrennt werden, der fr eine +entfaltete Marktgesellschaft typisch ist. Vergesellschaftung ber den +Markt ist eine paradoxe Form von Vergesellschaftung. Sie erzeugt auf +der einen Seite, wie Elias richtig gesehen hat, ein hochkomplexes +System von Interdependenzen, in dem die Individuen so stark vernetzt +sind wie niemals zuvor in der Geschichte. Auf der anderen Seite aber +treibt sie durch die Forcierung der Konkurrenz und durch die +Universalisierung der brgerlichen Rechtsprinzipien den +Vereinzelungsproze in einer historisch ebenfalls beispiellosen Weise +voran. Markt, das kann man nicht nachdrcklich genug hervorheben, +aggregiert nicht nur, er disaggregiert auch; schafft nicht nur neue +Verflechtungen, sondern negiert immer auch die Verflechtungen, die er +selbst erzeugt hat. + + Das lt sich bereits am Schicksal der kleinsten sozialen Einheit +zeigen, in der Elias mit Recht das Konditionierungsinstrument der +brgerlichen Gesellschaft par excellence sieht: der Kleinfamilie. +Selbst ein Produkt des modernen Differenzierungsprozesses, in dessen +Verlauf die produktive Lohnarbeit vorrangig den mnnlichen +Erwachsenen, die nichtproduktive Subsistenzarbeit einschlielich der +Kindererziehung dagegen den Frauen zugewiesen wurde, befindet sich +dieser Familientypus heute durch die rechtliche und zunehmend auch +faktische Gleichstellung der Frauen in einer fortschreitenden Erosion. +Die Individuen werden aus den bis dahin gltigen, quasistndischen +Vorgaben des Geschlechts herausgelst und gezwungen, sich selbst zum +Zentrum ihres eigenen Lebens zu machen. Die fr die Moderne typische +Temporalisierung erfat auch die Ehe und unterwirft sie den Rhythmen +der 'seriellen Monogamie' (Shorter). Die Familie wird zur +'Verhandlungsfamilie auf Zeit' (Beck), deren Mitglieder einen +stndigen Kampf um den Ausgleich zwischen beruflichen und emotionalen +Interessen ausfechten mssen. Die Fragmentierung und Atomisierung +ergreift damit unwiderruflich auch jenen Bereich, der noch dem frhen, +puritanischen Brgertum als ein so sicheres Fundament gegolten hatte, +da es von ihm her die gesamte Gesellschaft erneuern zu knnen +geglaubt hatte. + + "In dem zu Ende gedachten Marktmodell der Moderne wird die familien- und ehelose Gesellschaft unterstellt. Jeder mu +selbstndig, frei fr die Erfordernisse des Marktes sein, um seine konomische Existenz zu sichern. Das Marktsubjekt ist in letzter +Konsequenz das alleinstehende, nicht partnerschafts-, ehe- oder familien'behinderte' Individuum. Entsprechend ist die +durchgesetzte Marktgesellschaft auch eine kinderlose Gesellschaft - es sei denn, die Kinder wachsen bei mobilen, +alleinerziehenden Vtern und Mttern auf" (Beck 1986, 191). +AAF + Man mu nur einen Blick auf die Geburtenrate in der Bundesrepublik +werfen, um sich vom Realittsgehalt dieser berlegungen zu berzeugen. + + hnliche Dekompositionserscheinungen zeigen sich auch an +komplexeren sozialen Aggregaten, die einmal die Struktur der +brgerlichen Industriegesellschaft prgten. Insbesondere der +Klassenbegriff, der sich noch im 19. Jh. brgerlichen und +sozialistischen Theoretikern gleichermaen aufdrngte, hat in den +fortgeschrittenen kapitalistischen Lndern seine Bedeutung fr die +Bildung kollektiver Identitten fast vllig verloren. "Der +unermeliche Druck der Herrschaft", so hat Adorno dies bereits vor +mehr als vierzig Jahren formuliert, "hat die Massen so dissoziiert, +da noch die negative Einheit des Unterdrcktseins zerrissen wird, die +im neunzehnten Jahrhundert sie zur Klasse macht" (Adorno, GS 8,377). +Nicht da der Gegenstand des Begriffs - die objektive Bndelung von +Ungleichverteilungen - damit verschwunden wre: soziale Ungleichheiten +haben nicht ab-, sondern zugenommen. Aber die Auflsung +klassenspezifischer Lebensformen durch die Erhhung des +gesamtgesellschaftlichen Konsumniveaus, der Rckgang des +Beschftigtenanteils im industriellen Sektor, der - in den USA +besonders drastische - Bedeutungsverlust der Gewerkschaften, die +allgemeine Schrumpfung der 'Erwerbsarbeitsgesellschaft' (Beck) in den +hochindustrialisierten Lndern, die Bewltigung der +Massenarbeitslosigkeit in Form von Unterbeschftigung und +lebensphasenspezifischer Verteilung der knapper gewordenen Lohnarbeit +- dies alles hat zu einer Erosion der im Klassenbegriff immer +mitgedachten kollektiven Identitt gefhrt, durch welche die +Individuen in zunehmendem Mae auf sich selbst zurckgeworfen werden. +Soziale Klassen, urteilt Luhmann zutreffend, sind heute Schichten, +"die darauf verzichten mssen, Interaktion zu regulieren" (Luhmann +1985c, 131; zur Diskussion ber den Klassenbegriff vgl. auch Ritsert +1987). + + Vielleicht mu man noch einen Schritt weitergehen und von einer +Erosion der fr die soziale Identittsbildung konstitutiven Sphre der +ffentlichkeit schlechthin sprechen. Fr Elias steht eine derartige +Mglichkeit ganz auer Betracht, obwohl der Verfall der aus dem 19. +Jh. berkommenen Formen von ffentlichkeit zu den Kardinalthemen der +Weimarer Republik gehrte (Schmitt 1979a): der die Bildung von +Gewaltmonopolen begleitende Proze der sozialen Verflechtung macht es +der Zivilisationstheorie zufolge an einem bestimmten Punkt der +Entwicklung unausweichlich, die privaten Verfgungschancen ber die +politischen und wirtschaftlichen Apparate aufzuheben und die +Privatmononopole in ffentliche Monopole umzuwandeln (II, 148ff., +438ff.). Aus heutiger Sicht ist die Moderne jedoch nicht nur durch +eine Erweiterung des ffentlichen auf Kosten des Privaten +gekennzeichnet, sondern ebenso durch eine Privatisierung des +ffentlichen, durch die wesentliche Merkmale von ffentlichkeit +zerstrt werden. Dies gilt, worauf schon Habermas hingewiesen hat, fr +den Aufstieg der Verbnde und der Massenmedien, die die kritische +Publizitt durch eine manipulativ erzeugte verdrngen (Habermas 1968). +Es gilt aber auch in dem umfassenderen Sinne einer berlagerung und +Modifizierung spezifisch ffentlicher Denk- und Verhaltensmodelle +durch die private Vorstellungswelt, wie sie Richard Sennett in seinem +Buch ber das Verschwinden des Public Man darstellt. Die moderne +Gesellschaft erscheint danach nicht als eine zivilisierte, durch +Selbstdistanz und rationale Interessenverfolgung bestimmte Vereinigung +von Menschen, sondern im Gegenteil als ein Ensemble 'destruktiver +Gemeinschaften', in denen manche sogar eine Wiederkehr der +Stammesverbnde zu entdecken glauben7.In der 'intimen Gesellschaft' +der Gegenwart, so Sennett, haben die Menschen die Fhigkeit verloren, +ffentlich, d.h. unter Absehung von ihrer je besonderen Person, zu +handeln. Die soziale Interaktion schrumpft zu einem bloen Medium des +Selbstausdrucks und der Selbstvergewisserung, die Aktivitt zu einer +nicht endenden Suche nach narzitischen Gratifikationen, die sich +nicht zuletzt im Streben nach Identifikation mit grandiosen +'Kollektivpersnlichkeiten' realisiert (Sennett 1983, 251ff.). Auch +wenn Sennetts Ursachenerforschung mit dem Hinweis auf Erscheinungen +wie Skularismus und Symbolismus etwas bla ausfllt und in ihren +historischen Partien nicht durchweg zu berzeugen vermag, sollte die +Erfahrung mit den Massenbewegungen dieses Jahrhunderts Anla genug +sein, seine Hypothesen nicht auf die leichte Schulter zu nehmen8. + + Die Entwicklung der modernen Gesellschaft, dies kann als Resmee +des 'dialektischen' Einwands gegen die Zivilisationstheorie +festgehalten werden, lt sich nicht einfach unter dem Gesichtspunkt +einer stndigen Ausdehnung der sozialen Verflechtung begreifen, die +Konkurrenz nicht blo als Medium, das die Bildung immer umfassenderer +und hherstufiger Aggregate vorantreibt. Vielmehr ist auch das +Gegenteil zu beobachten. Soziale Verknpfungen, die mit der +brgerlichen Gesellschaft entstanden sind, werden dekomponiert, +Solidarittsbeziehungen ausgednnt oder ganz gesprengt. +Marktvergesellschaftung bedeutet Steigerung der Interdependenz und +Atomisierung des Sozialen, Vernetzung und Negation aller Bindungen - +asoziale Sozialitt. Sie forciert die Differenzierung und zerstrt +doch zugleich durch die universale Vergleichbarkeit aller Arbeiten im +Tauschwert die Bedingungen der Mglichkeit von Differenz. Sie erzwingt +eine immer dichter werdende Integration der Gesellschaft und +verhindert doch, da daraus ein gesellschaftliches Subjekt entsteht. +Die Integration vollzieht sich hinter dem Rcken der handelnden +Individuen und macht sich in einer Form geltend, die unmittelbar +betrachtet als das Gegenteil aller Integration erscheint. Durch ihre +einseitige Fixierung auf Synthese, die Regressionen zwar nicht +ausschliet, aber eher als zufalls- denn als systemgeneriert versteht +(1987, 184), verstellt sich die Zivilisationstheorie die Einsicht in +den Umstand, da die Logik der Vergesellschaftung auch eine 'Logik des +Zerfalls' (Adorno) ist. Sie fllt damit noch hinter den +Reflexionsstand der lteren Soziologie von Comte bis Durkheim zurck, +der bei allem Vertrauen in die Integrationskraft des Staates oder die +solidarittsstiftenden Wirkungen der Arbeitsteilung die negative Seite +der funktionalen Differenzierung nie ganz aus dem Blickfeld geriet. +Bedenkt man, da 'ber den Proze der Zivilisation' in unmittelbarer +Zeitgenossenschaft mit der grten Krise der modernen +Weltwirtschaftsordnung entstand, kann man sich ber diesen +Reflexionsverlust nicht genug wundern. + + + + 2. Diese Kritik wird durch den zweiten Einwand erhrtet, der sich +aus dem Gang der psychoanalytischen Theoriebildung ableiten lt. Die +Integration Freudscher Begriffe, insbesondere des Strukturmodells des +psychischen Apparats, gehrt zweifellos zu den starken Seiten der +Zivilisationstheorie, ermglicht sie es doch Elias, auf +psychogenetischer Ebene die Unterschiede zwischen brgerlichen und +vorbrgerlichen Formen weitaus genauer zu erfassen, als es ihm auf +soziogenetischer Ebene gelingt. So arbeitet Elias przise den Wechsel +in der Konditionierungsinstanz heraus - den bergang von der +ffentlich-hfischen zur privat-familialen Form der +Affektmodellierung. So erkennt er richtig den Wechsel in der +Konditionierungsmethode - die Umwandlung von Fremdzwang in Selbstzwang +via Verinnerlichung und Identifikation. Und so vermag er schlielich +auch deutlich zu machen, zu welch neuartigem Ergebnis diese +Vernderungen fhren: einem Sozialcharakter, der durch eine bisher +nicht dagewesene Differenzierung zwischen Ich- und ber-Ich-Funktionen +auf der einen und Triebfunktionen auf der anderen Seite gekennzeichnet +ist (vgl. II, 390f.; 1987, 85). + + Diese Einsichten fhren Elias jedoch nicht zu einer Revision +seiner These vom zivilisatorischen Kontinuum. Im Gegenteil. Wie der +brgerliche Nationalstaat ihm nur als Steigerungsform der mit dem +Absolutismus bereits erreichten Zentralisierung gilt, so erscheint ihm +auch das brgerliche Schema der Affektregulierung letztlich nur als +Fortfhrung und Verdichtung des hfischen Schemas, was nicht nur in +expliziten Formulierungen, sondern weit mehr noch stilistisch in der +hufigen Verwendung des Komparativs seinen Ausdruck findet: so etwa, +wenn Elias vom "bergang zu einem 'rationaleren' Verhalten und Denken, +ebenso wie (dem) zu einer strkeren Selbstkontrolle" spricht (II, +394), wenn er den "Zwang zu einer differenzierteren +Selbstdisziplinierung, zu einer festeren ber-Ich-Bildung" heraushebt +(II, 351), die Ausbildung einer "stabilere(n), zum guten Teil +automatisch arbeitende(n) Selbstkontrollapparatur" vermerkt (II, 320) +oder die Durchsetzung eines "affektneutraleren" Gesamtverhaltens +behauptet (II, 373f.). Gewi: der brgerliche Sozialcharakter ist +anders als der aristokratische. Aber fr Elias ist er dies vor allem +im Sinne eines Mehr an Kontroll- und Steuerungskapazitten, welche im +aristokratischen Charakter in nuce bereits angelegt waren. Und er +besitzt dieses Mehr hauptschlich deshalb, weil die brgerliche, +familial vermittelte Erziehung einen erfolgreichen Weg gefunden hat, +um die soziale Kontrolle in das Individuum hineinzuverlagern: die +Verinnerlichung. + + Aus psychoanalytischer Sicht kann man diese Auffassung nur als +sehr selektiv bezeichnen (Lasch 1985, 712ff.). Da die Verinnerlichung +ein bedeutendes Mittel der zivilisatorischen bzw. kulturellen +Entwicklung ist, die Voraussetzung dafr, da aus Kulturgegnern +Kulturtrger werden (Freud IX, 145), ist zwar ein Grundmotiv Freuds, +der in seinen Arbeiten hufig die disziplinierenden und +sozialisierenden Funktionen des ber-Ichs hervorgehoben hat: das ber- +Ich ist die Basis der Religion, der Moral und des sozialen Empfindens, +es ist der "Trger der Tradition, all der zeitbestndigen Wertungen, +die sich auf diesem Wege ber Generationen fortgepflanzt haben" (Freud +I, 505), es tritt dem Individuum als ein kategorischer Imperativ +entgegen und bewirkt dadurch jene Umwandlung, durch die es erst +moralisch und sozial wird (Freud III, 315; IX, 145). Im Gegensatz zu +Elias sieht Freud in diesem Mechanismus jedoch nicht erst eine +Errungenschaft der Neuzeit; darber hinaus macht er klar, da es sich +um eine hchst ambivalente Einrichtung handelt. Das ber-Ich ist +nmlich nicht nur, wie Elias meint, ein "Abdruck der Gesellschaft im +Innern" (I, 173), es ist gleichzeitig "der Erbe des dipuskomplexes +und somit Ausdruck der mchtigsten Regungen und wichtigsten +Libidoschicksale des Es. Durch seine Aufrichtung hat sich das Ich des +dipuskomplexes bemchtigt und gleichzeitig sich selbst dem Es +unterworfen. Whrend das Ich wesentlich Reprsentant der Auenwelt, +der Realitt ist, tritt ihm das ber-Ich als Anwalt der Innenwelt, des +Es gegenber" (Freud III, 3O3). + + Diese Aussage bedarf einer kurzen Erluterung. Freud teilt mit +Elias die Auffassung, da das ber-Ich im einzelnen die +gesellschaftliche Allgemeinheit vertritt und damit als Conditio sine +qua non der Zivilisation bzw. der Kultur fungiert. Whrend Elias +jedoch dazu neigt, die Aufrichtung dieses ber-Ichs eher +behavioristisch als Ergebnis von Konditionierungsvorgngen anzusehen, +eine triebtheoretische Begrndung jedenfalls nicht gibt9, kreisen +Freuds Bemhungen gerade um diese letztere. Das Soziale, so sein +Gedanke, kann nur dann im einzelnen seinen Niederschlag finden, wenn +es sich mit bestimmten Triebregungen legiert und in der Triebkonomie +selbst einen Sttzpunkt findet. Dies geschieht nach Freud primr in +der dipalen Phase. Das Kind mu auf dieser Stufe seiner Entwicklung +auf die intensiven Liebes- und Feindseligkeitswnsche gegenber seinen +Eltern vezichten, und es lst diese Aufgabe durch Identifizierung, +durch Neuschpfung des aufgegebenen Objekts in seinem Innern (Freud I, +502). Teile der libidinsen Energien flieen dem 'Ich-Ideal' zu, +dessen Definition bei Freud allerdings starken Schwankungen unterliegt +(vgl. Chasseguet-Smirgel 1981, 215ff.); Teile der aggressiven +Energien, namentlich die Kastrations- und Todeswnsche gegen den +dipalen Rivalen, dem Gewissen und dem Schuldgefhl, den wichtigsten +Komponenten des ber-Ichs (Freud III, 304). Die sozialisierende +Leistung des ber-Ichs ruht somit triebkonomisch gesehen auf einem +asozialen, ja antisozialen Fundament: der Aggression, die gleichsam +nur von auen nach innen umgelenkt wird. + + Diese Zusammenzwingung zweier entgegengesetzter Tendenzen fhrt +nach Freud zu einer uerst labilen Konstellation. Schon in 'Das Ich +und das Es' notiert er, da je mehr ein Mensch seine Aggression nach +auen einschrnke, er desto aggressiver und strenger in seinem ber- +Ich werde. Das ber-Ich werde 'hypermoralisch' und wende sich mit der +gleichen Grausamkeit gegen das Ich wie in anderen Konflikten das Es +(Freud III, 320f.). Was hier noch rein individualpsychologisch als +Neigung zur Zwangsneurose oder zur Melancholie diagnostiziert wird, +wird spter zu einer These ber die Pathologie der kulturellen +Gemeinschaften erweitert. Der Preis fr den Kulturfortschritt, heit +es in 'Das Unbehagen in der Kultur', liege in der "Glckseinbue durch +die Erhhung des Schuldgefhls" (Freud IX, 26O). Bereits in der +Familie sei das Zusammenleben nur mglich durch den Verzicht auf die +dipalen Bedrfnisse und durch die Einsetzung des Gewissens. Jede +Erweiterung der sozialen Verbnde setze diesen Konflikt fort und habe +eine weitere Steigerung des Schuldgefhls zur Folge. Der Kulturproze +gehorcht einer unheilvollen Mechanik. Je mehr im Laufe der +Vergesellschaftung die unmittelbare Aggression zwischen den Individuen +abgebaut wird, desto mehr baut sie sich in den Individuen auf. Je +geringer die Macht der Triebe und Affekte im sozialen Verkehr, desto +grer die 'gesellschaftliche Produktion von Unbewutheit' (Erdheim) +und der Druck des Verdrngten auf das Ich (vgl. Freud IX, 258f.). Da +der Mensch jemals jenes "optimale Gleichgewicht seiner Seele" finden +knnte, wie Elias dies fr den vollendeten Zivilisationsproze in +Aussicht stellt, mu nach Freud als eine naive Utopie angesehen +werden. + + Es ist bekannt, da Freud trotz dieser dsteren Perspektive dem +Ich noch gengend Kraft zutraute, um - notfalls mit Untersttzung der +Psychoanalyse - der Wiederkehr des Verdrngten standzuhalten. Und es +ist auch bekannt, worauf sich dieses Vertrauen grndete: auf die +Annahme, da das ber-Ich der Erbe des dipuskomplexes sei und "erst +nach der Erledigung desselben" eingesetzt werde (Freud 1964, 85): in +einem Stadium mithin, in dem die psychosexuelle Entwicklung und die +Ich-Reifung bereits ein gewisses Niveau erreicht haben. Der Einbruch +des Sozialen, so kann man zugespitzt formulieren, erfolgt im +Freudschen Modell auf einer Stufe, auf der das Ich bereits eine solche +Strke erreicht hat, da es seine unterschiedlichen Phantasien, +Wnsche und Objektbeziehungen zu einem kohrenten Funktionssystem zu +integrieren vermag (vgl. Jacobson 1978, 136ff.) + + Dieses Modell ist durch den Fortschritt der psychoanalytischen +Erkenntnis nach Freud sowohl auf individual- wie auf +sozialpsychologischer Ebene relativiert worden. Auf +individualpsychologischer Ebene erhellten die wie immer auch +unterschiedlichen und z.T. gegenstzlichen Forschungen der Englischen +Schule, der genetischen oder strukturalistischen Schule und der +Narzimus-Theorie die grundlegende Bedeutung, die der prdipalen +Entwicklung im Rahmen des Sozialisationsvorgangs zukommt. Melanie +Klein, Ernest Jones u.a. entdeckten die archaischen Vorstufen des +ber-Ichs, die weniger durch Introjektionen der ueren Realitt als +vielmehr durch Einverleibungen vor allem der destruktiv-sadistischen +Projektionen des Kleinkindes bestimmt sind (vgl. Klein 1928/1985; +1973, 21, 157ff.; Jones 1978). Ren Spitz, Margaret S. Mahler u.a. +arbeiteten die konstitutive Funktion der Mutter-Kind-Dyade bzw. +Symbiose sowie des Loslsungs- und Individuationsvorgangs heraus und +dokumentierten die vielfltigen pathogenen Wirkungen, die ein +psychotoxisches oder unzureichendes Verhalten der Mutter auf die +Psyche des heranwachsenden Kindes haben kann (vgl. Spitz 1967; Mahler +1972, 1978). Autoren wie Kohut und Kernberg endlich erklrten die +zunehmende Zahl von Charakterstrungen mit einer mangelhaften Ablsung +der narzitischen Energien von archaischen Objekten wie dem Gren- +Selbst und den idealisierten Eltern-Imagines (Kohut 1976; Kernberg +1978). Freuds Vorstellungen erwiesen sich vor diesem Hintergrund nicht +als falsch, wohl aber als zu stark auf die vterliche Intervention in +der dipalen Phase fixiert. + + Noch weiter relativiert wurden diese Vorstellungen durch die +psychoanalytisch orientierte Sozialpsychologie, die mit plausiblen +Argumenten auf den Klassencharakter und die Historizitt der von Freud +beschriebenen dipalen Konfiguration hinwies. Klassencharakter: denn +diese Konfiguration, die durch die Intensitt der Mutter-Kind-Symbiose +sowie durch die Sprengung derselben durch den verbietenden und Distanz +zum Lustprinzip erzwingenden Vater bestimmt ist, spiegelt eindeutig +die Zwnge der brgerlichen Kleinfamilie mit ihrer scharfen +Rollentrennung. Historizitt: denn dieser Familientypus kann +angesichts vernderter Arbeitsbedingungen und +Geschlechtsrollenzuweisungen als kulturell nicht mehr so bestimmend +wie noch zu Freuds Zeiten angesehen werden. + + Dafr sind viele Ursachen verantwortlich, die hier nur angedeutet +werden knnen: die 'Entwertung all der Eigenschaften, die einmal die +Vaterkultur getragen haben' (Mitscherlich), in erster Linie der +individuellen Arbeitserfahrung und des familialen Besitzes von +Produktionsmitteln; die Entstehung eines nivellierten Gesamtarbeiters +(Marx), in dem die Proletarisierung Massenschicksal ist; die +Ausdifferenzierung und Entkoppelung vormals in der Familie +zusammengefater Lebenslagen; die 'Polizierung' der Familie durch +brokratische Regelung und Verrechtlichung; schlielich die +'Sozialisierung' der Elternfunktion durch Massenmedien, peer groups +und Therapeuten. Das Stadium der 'individualistischen +Vergesellschaftung' (Adorno), in dem sich Sozialisation ber die +Identifikation mit einer zugleich bedrohlichen und idealisierten +Person vollzog, scheint vorber zu sein. "Die unterdrckende +Trieborganisation scheint kollektiv, und das Ich durch ein ganzes +System extrafamilialer Einrichtungen und deren Vertreter vorzeitig +sozialisiert zu sein" (Marcuse 1967, 98; vgl. Mitscherlich 1968, +185ff., 310ff.; Lasch 1986, 179ff.). + + Da Marcuse hier von vorzeitiger Sozialisierung spricht, meint +nicht mehr und nicht weniger, als da der Zugriff des Ganzen auf das +Individuum zu einem Zeitpunkt erfolgt, in dem der psychosexuelle +Reifungsproze noch nicht zur Herausbildung eines stabilen und +kohrenten Ichs gefhrt hat. Zahlreiche Diagnosen stimmen darin +berein, da unter den gegenwrtigen Bedingungen des abwesenden Vaters +ein groer Teil der psychischen Energien an prdipale Objekte +gebunden bleibt, so da fr den Aufbau und die Besetzung reifer Ich- +und ber-Ich-Strukturen nur ein vermindertes Quantum zur Verfgung +steht. Die Folge ist, da die frhkindliche Entwicklung gar nicht mehr +bis zum entscheidenden dipalen Konflikt gelangt, was wiederum +zugleich bedeutet, da die prdipalen, archaischen Anteile des ber- +Ichs gegenber den dipalen ein bergewicht erlangen. + + "So haben wir heute das folgende Problem: die hemmende, kontrollierende und leitende Funktion des berichs, die heute +weitgehend mit der des Ichs zusammenfllt, ist durch die Schwche der Eltern, die nachgiebige Erziehung und das +gesellschaftliche Klima abgeschwcht. Die sexuellen und aggressiven Triebe halten sich immer weniger an Regeln. Aber wir haben +immer noch das strengere berich aus der frhen Kindheit, das in der Tiefe des Individuums fortlebt. Daraus resultieren Unruhe, +Unbehagen, depressive Verstimmungen und Sucht nach Ersatzbefriedigungen"10. +AAF + Auch fr die Psyche gilt damit, was wir bereits fr die +soziogenetische Ebene festgestellt haben: da Vergesellschaftung unter +Marktbedingungen ein hchst paradoxer Vorgang ist. Verglichen mit +Freuds Zeiten ist das Netz des Sozialen engmaschiger und strker +geworden und hat lngst auch den privaten Schonraum der Familie +erfat, in dem Elias noch eine Enklave des gesellschaftlich nicht +Geformten sah (I, 226f., 247, 259). Diese Expansion des Sozialen aber +geht keineswegs einher mit einer kontinuierlich zunehmenden +'Individualisierung' oder gar 'Massenindividualisierung' (1987, 273, +242), sondern macht Individuierung zu einer immer schwerer zu +bewltigenden Aufgabe. Durch den Fortfall jener Faktoren, die in der +brgerlichen Familie eine sukzessive Einschrnkung und Frustrierung +der archaischen Wnsche und Phantasien durchsetzten, wird die Macht +des Unbewuten gestrkt; damit aber die Macht einer Instanz, die, im +Gegensatz zu den Annahmen eines C.G. Jung, keine hhere Kollektivitt +verkrpert, sondern deren Negation: die aus der gesellschaftlichen +Kommunikation ausgeschlossene private Symbolwelt der von ihren +prdipalen Objekten beherrschten Individuen (vgl. Lorenzer 1970, 92, +97). Zivilisation, die einmal aus der Domestizierung des Archaischen +entsprang, schlgt damit in ihr Gegenteil um: in die Wiedererzeugung +des Archaischen "in der Zivilisation durch die Zivilisation selbst" +(Adorno 1971, 42). Es spricht gegen die Zivilisationstheorie von +Elias, da sie noch nicht einmal die Mglichkeit einer derartigen +Entwicklung errtert11. + + + + 3. Der letzte hier zu diskutierende Einwand stammt aus der +Systemtheorie und besagt, da Elias dem Unterschied zwischen +Interaktions-, Organisations- und Gesellschaftssystemen nicht gengend +Rechnung trgt. Interaktionssysteme sind, nach der Definition +Luhmanns, dadurch bestimmt, da Anwesende sich wechselseitig +wahrnehmen und auf dieser Grundlage miteinander kommunizieren. Wegen +dieser Bindung an die konkrete Prsenz von Personen knnen sie weder +in ihren internen noch in ihren externen Beziehungen sonderlich hohe +Komplexitt erreichen, eine Beschrnkung, die noch dadurch verstrkt +wird, da die Erfordernisse der thematischen Konzentration und der +linearen Sequenz der Beitrge sehr zeitraubend sind. - +Organisationssysteme ermglichen dagegen eine hhere sachliche und +zeitliche Generalisierung, weil sie auf Mitgliedschaftsregeln +aufbauen. Auf der Basis solcher Regeln ist es mglich, hochgradig +knstliche Verhaltensweisen dauerhaft zu reproduzieren, die sich durch +ein hohes Ma an Motivgeneralisierung und Verhaltensspezifikation +auszeichnen. - Der Begriff des Gesellschaftssystems schlielich zielt +auf die umfassendste Form von Kommunikation: das Sozialsystem par +excellence, das als Bedingung aller anderen sozialen Systeme fungiert +(damit auch aller Interaktions- und Organisationssysteme). Es ist +nicht einfach die Summe aller Organisationen und Interaktionen, +sondern ein System hherer Ordnung. Es schliet neben Interaktionen +auch interaktionsfreie Handlungen wie z.B. schriftliche Kommunikation +ein, grenzt das Soziale vom Nichtsozialen ab und ermglicht die +Ausdifferenzierung von Subsystemen, die auf bestimmte, nur ihnen +zurechenbare Funktionen spezialisiert sind (Luhmann 1974, 143; 1982, +11f.). + + Mit dieser Unterscheidung verbindet Luhmann eine evolutionre +Perspektive. Obwohl keine Gesellschaft jemals ganz in Interaktionen +aufgeht, gilt doch fr archaische Gesellschaften, in denen die +Funktionsdifferenzierung nur wenig entwickelt ist, da sie +interaktionsnah gebildet werden (Luhmann 1985, 576). Auch in den +vormodernen Hochkulturen spielen Interaktionssysteme noch eine +fhrende Rolle, wenngleich wichtige Funktionen bereits durch +Organisationen erledigt werden: das Prinzip der Stratifikation, nach +dem diese Gesellschaften gegliedert sind, hat zur Folge, da die +Gesellschaft als Ganze durch das Kontaktnetz der Oberschicht +reprsentiert und symbolisiert wird. Oberschichteninteraktion kann +deshalb als Integrationmodus stratifizierter Gesellschaften angesehen +werden (Luhmann 1980, 84). + + In der modernen Gesellschaft dagegen, die auf voll durchgefhrter +funktionaler Differenzierung beruht, kommt dem Interaktionssystem +keine integrative Aufgabe mehr zu. Wohl bleibt Interaktion eine +Basisbedingung von Gesellschaft, die sich ja schlielich durch +soziales Handeln konstituiert. Doch ist die Gesellschaft mit der +Delegation grundlegender Funktionen an Subsysteme, mit der Entstehung +ausgedehnter Organisationssysteme und nicht zuletzt mit der +Erweiterung zur Weltgesellschaft so komplex und berpersnlich +geworden, da sie sich durch Interaktion nicht mehr reprsentieren, +geschweige denn bewltigen lt. + + "Die Gesellschaft ist, obwohl weitgehend aus Interaktionen bestehend, fr Interaktion unzugnglich geworden. Keine +Interaktion, wie immer hochgestellt die beteiligten Personen sein mgen, kann in Anspruch nehmen, reprsentativ zu sein fr +Gesellschaft. Es gibt infolgedessen keine 'gute Gesellschaft' mehr. Die in der Interaktion zugnglichen Erfahrungsrume vermitteln +nicht mehr das gesellschaftlich notwendige Wissen, sie fhren wohlmglich systematisch in die Irre. Auch die Interaktionsfelder, die +sich unter irgendwelchen Gesichtspunkten zusammenfgen und aggregieren lassen, lenken die Aufmerksamkeit uerstenfalls auf +Funktionssysteme, vielleicht auch auf regionale Abgrenzungen (Nationen), nicht aber auf das umfassende System +gesellschaftlicher Kommunikation" (Luhmann 1985, 585). +AAF + Im gleichen Mae, wie die Interaktion an gesamtgesellschaftlicher +Relevanz verliert, schiebt sich die Organisation in den Vordergrund. +Dieselben Prozesse, die zur Auseinanderziehung der Systemebenen von +Gesellschaft und Interaktion fhren - die Ausdifferenzierung und +durchgehende Monetarisierung der Gesellschaft, die Verrechtlichung der +Erhaltungs- und Fortsetzungsbedingungen tglicher Lebensfhrung, die +wachsende Bedeutung von Schulerziehung und Berufswahl fr die +individuelle Biographie (Luhmann 1981, 360f.) - begnstigen nach +Luhmann eine massenhaft-spontane 'Autokatalyse' von Organisationen und +eine entsprechende Verallgemeinerung der diesem Systemtypus eigenen +Besonderheiten: der Engfhrung von Kommunikation auf Entscheidungen +und Verknpfungen von Entscheidungen; der Bindung an Weisungsketten, +mterhierarchien und Kontrollmechanismen; der Unterwerfung unter +programmierte Ziele und Strategien; der Entlastung von moralischen +Erwgungen und gesamtgesellschaftlichen Reflexionen. + + Allerdings bedeutet diese unbestreitbare Expansion von +Organisationen und organisationsspezifischen Verhaltensmustern nicht, +da sich die Gesellschaft in ein einheitliches Organisationssystem +verwandelt. Die Gesellschaft konstituiert sich heute als +Weltgesellschaft und bersteigt schon allein dadurch den Horizont des +Organisierbaren. Auch innerhalb der einzelnen Funktionsbereiche ist +die Komplexitt so sehr angewachsen, da die Aufgaben der Wirtschaft +oder der Erziehung durch eine einzige Organisation nicht bewltigt +werden knnten. Selbst wenn es z.B. gelnge, Produktionsorganisationen +durch eine weltweite Planung zu integrieren, knnten gleichwohl +Produktions- und Konsumentscheidungen nicht zu einer einzigen +Organisation zusammengeschlossen werden (Luhmann 1982, 15). +Organisierte Sozialsysteme mgen der Rahmen sein, in dem sich ein +groer, wenn nicht der grte Teil des sozialen Alltagshandelns +vollzieht. Zu einer Megaorganisation, in der die Unterscheidung von +Gesellschaftssystem und Organisationssystem hinfllig wrde, fgen sie +sich nicht. + + Im Lichte dieser Unterscheidungen liegt der Grundmangel der +Zivilisationstheorie in der Totalisierung von Verhaltensformen, die +fr Interaktionssysteme typisch sind. Diese Totalisierung ist +historisch gesehen nicht vllig falsch. Sie kann sich darauf berufen, +da unter den Bedingungen stratifikatorischer Differenzierung in der +Tat ein spezifisches Interaktionssystem - der Hof - +Integrationsaufgaben erfllte und insofern von +gesamtgesellschaftlicher Relevanz war. Elias beschrnkt die Gltigkeit +der Zivilisationstheorie jedoch ausdrcklich nicht auf diese Phase, +sondern fat auch die der funktionalen Differenzierung und den +organisierten Sozialsystemen gemen neuen Verhaltensmuster als +Manifestation des Zivilisierungsprozesses auf, obgleich er sehr wohl +einrumt, da das Schema der nichthfischen mittelstndischen +Zivilisationslinie von dem der hfischen verschieden ist, und obgleich +er erkennt, da die 'guten Gesellschaften', die nach der hfischen +kommen, "nicht mehr im entferntesten die gleiche formgebende Kraft" +haben (II, 416; 1975, 144f., 172ff.). Der Proze der Zivilisation, +lautet eine mehrfach wiederholte Kernthese, vollzieht sich "ohne +Bruch", "in einer immer intensiveren Ausbreitungsbewegung", die mit +der Bildung eines hfischen Sozialcharakters beginnt und - vorerst - +mit einem von diesem abgeleiteten Nationalcharakter endet (I, 43f.). + + Die Behauptung aber, da die "hfisch-aristokratische +Menschenmodellierung (...) in dieser oder jener Form in die +berufsbrgerliche ein(mndet) und (...) in ihr aufgehoben +weitergetragen (wird)" (II, 418), wird der im Begriff der 'Aufhebung' +liegenden Dialektik nicht gerecht. Gewi gibt es eine Aufhebung im +Sinne des Bewahrens und Fortfhrens, die sich in der bernahme +bestimmter Mechanismen der Selbstkontrolle (Langsicht, +Affektbeherrschung) oder in Erscheinungen wie der 'Demokratisierung +der Literalitt' (Goody/Watt) zeigt. Aufhebung aber meint auch stets - +und in diesem Falle mehr als alles andere - Negation, Auer-Geltung- +Setzen, Beenden. So hat die Demokratisierung der Literalitt, wie +Goody und Watt gezeigt haben, durchaus nicht nur zu einer kollektiven +Aneignung des kulturellen Erbes gefhrt, sondern auch dessen +Verbindlichkeit aufgelst und dessen Homogenitt zerstrt12, und so +resultiert denn auch die Aufhebung des Privilegs nicht in der +Verallgemeinerung der in der Oberschicht geltenden Codes, sondern +allenfalls in deren Musealisierung. + + Luhmann zufolge ist diese Entwicklung unausweichlich, denn erstens +verliert die Oberschichteninteraktion mit zunehmender +Ausdifferenzierung von Subsystemen ihren Reprsentationscharakter - +das Ganze lt sich durch keinen Teil mehr darstellen, sondern ist nur +noch in den Teilen selbst prsent; und zweitens geht durch die +Radikalisierung der Funktionsdifferenzierung die Conditio sine qua non +hfischer Interaktion verloren: die Verfgung ber ein ausreichendes +Quantum nichtfunktionsbezogener Zeit, alteuropisch ausgedrckt: Mue. +Nur eine Schicht, die ihr gesamtes Dasein 'mig' verbrachte, d.h. +nicht primr in den Aufgaben der Produktion und Reproduktion des +unmittelbaren Lebens aufging, konnte jene gesteigerte Fhigkeit zur +Wahrnehmung des eigenen und des fremden Selbst ausbilden, von der das +Leben bei Hofe abhing; nur eine Schicht, die auf Reprsentation des +Ganzen spezialisiert war, konnte sich auf die Stilisierung der +Umgangsformen, auf die Produktion und Interpretation jener Zeichen +konzentrieren, in denen sich Rang und Ehre, Achtung oder Miachtung +dokumentierten. Wenn Zivilisation darin besteht, da man dem Umweg vor +der Abkrzung, der indirekten Aktion vor der direkten den Vorzug gibt, +so setzt sie eine Ordnung voraus, die wenigstens ber ein Gut im +berflu verfgt: Zeit. + + Organisierte Sozialsysteme indes, wie sie in der +berufsbrgerlichen Gesellschaft dominieren, beruhen auf der +systematischen Verknappung von Zeit. In ihnen geht es, wie man nicht +nachdrcklich genug hervorheben kann, um Zeitgewinn und um die damit +verbundenen Konkurrenzvorteile gegenber anderen Organisationen: daher +die Verkrzung und Kanalisierung der Kommunikation, die simultane +Erledigung von Aufgaben durch Arbeitsteilung, die Entlastung der +Operationen von der zeitraubenden Notwendigkeit, fr jeden Einzelfall +natrlich gewachsene Motive oder moralischen Konsens zu beschaffen13. +Es ist klar, da nur eine derartige konomisierung der Zeit die +Organisationen in die Lage versetzt, die Flle der ins Unendliche +gestiegenen Anforderungen zu bewltigen. Ebenso klar ist aber, da die +'Temporalisierung von Komplexitt' nur im Gegenzug gegen die fr die +traditionellen Oberschichten typischen Formen der Zeitverwendung +durchgesetzt werden kann - und damit auch im Gegenzug gegen die +civilisation. Wo die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des +Befristeten (Luhmann) regiert, wird Achtungskommunikation alten Stils +zum Luxus, der nur noch auerhalb der organisierten Sozialsysteme (und +hier oft noch nicht einmal gegen Geld) zu haben ist. Gepflegte +Geselligkeit und galante Konversation, Zivilisierung der Gesten und +der Sprache, Takt und Respekt, alle diese Formen erweisen sich heute +als Oberschichtenphnomene, die "nach der Auflsung der +stratifizierten Gesellschaftsordnung jedenfalls nicht als +Kultiviertheitserwartung fortgesetzt werden"14. + + Nicht da sie vllig verschwnden. Distinktionsstrategien spielen +auch heute noch eine wichtige Rolle im gesellschaftlichen Leben, vom +ehemaligen Adel ber die Bildungseliten bis hinab zur Unterwelt +(Girtler 1989). Aber der ubiquitre Zeitdruck erzwingt doch eine so +unbersehbare Reduktion und Minimierung aller Schnrkel und Floskeln, +eine solche Raffung aller umstndlichen Vermittlungen, da sich der +inter- und intraorganisatorische Kommunikationsstil mehr und mehr +jener zeitgenssischen Architektur angleicht, die das Ornament zum +Verbrechen erklrte (A.Loos). Zeitkonomie und Zivilisation schlieen +einander aus. Wer diesen Gegensatz verleugnet und auch fr die +Gegenwart noch am Zivilisationsbegriff festhalten will, mu daraus +alle Inhalte tilgen, die einmal mit Zivilisiertheit verbunden waren. + + + + + + + + + + +Anhngern nicht gnzlich entgangen. Besonders Cas Wouters hat sich +ihnen gestellt und einen Trend zur Informalisierung diagnostiziert, +den er auf Vernderungen in der Machtbalance zwischen den sozialen +Klassen, den Generationen und den Geschlechtern zurckfhrt (Wouters +1979; 1986). Elias hat dann diese Diagnose aufgegriffen und alle +Versuche abgewiesen, daraus eine Falsifizierung der +Zivilisationstheorie ablesen zu wollen. Die Informalisierung, so seine +These, sei im Gegenteil ein Beleg fr die Intensivierung des +Zivilisationsprozesses, weil sie mit einer "Zunahme des +gesellschaftlichen Drucks zur Selbstregulierung" einhergehe (Elias +1989, 60). Dem ist zweierlei entgegenzuhalten. Elias und Wouters haben +sicher recht, wenn sie in der Informalisierung nicht einfach einen +Rckfall in Chaos und Regellosigkeit sehen wollen. Selbstverstndlich +ist die moderne Gesellschaft, bei aller Lockerung von Konventionen und +Standards, durch ein sehr hohes Ma an Regulierung gekennzeichnet. +Nur: diese Regulierung ist ein Effekt der organisierten Sozialsysteme, +die strukturell in keinerlei Beziehungen zu den Interaktionssystemen +der hfischen Gesellschaft stehen. Der in ihnen endemische +Rationalisierungszwang drfte weit mehr als alle Vernderungen in den +Machtbalancen zwischen verschiedenen sozialen Gruppen dazu beigetragen +haben, da die berkommenen Interaktionsrituale nach und nach ber +Bord geworfen wurden. Zweitens aber kann die Informalisierung auch +deswegen keine Intensivierung des Zivilisationsprozesses sein, weil +die partielle Entstrukturierung der ueren Beziehungen mitnichten +durch Strukturgewinne im Innern der Subjekte kompensiert wird. Die +"vorzeitige" Sozialisation, so haben wir im vorigen Abschnitt gesehen, +fhrt gerade nicht auf eine "hhere Ebene des Bewutseins und +wahrscheinlich auch eine hhere Ebene der Selbststeuerung" (Wouters +1979, 294), sondern zu einer Schwchung des Ichs und einer +Entstrukturierung des ber-Ichs. Weit davon entfernt, ber die von den +Zivilisationstheoretikern supponierte Souvernitt zu verfgen, die es +ihm erlaubte, rigide Kontrollen in bestimmte Bereiche zu lockern, +scheint das Subjekt eher zum Zerfall zu tendieren: zur Spaltung in ein +uneigentliches Selbst, das sich den externen Funktionsimperativen der +organisierten Sozialsysteme anpat, und in ein eigentliches Selbst, +das sich in den Intermundien dieser Systeme entfaltet und berall +dort, wo es auf keine Schranken mehr stt, den Impulsen seiner +jeweiligen emotionalen Befindlichkeit folgt (Gerhards 1988, 237f.). +Wie dnn dabei die Linie ist, die die psychische von der physischen +Inkontinenz trennt, wei jeder, der die ffentlichen Verkehrsmittel in +Grostdten benutzt. + + + + + + + + + + +eine hfische Zivilisation im Abendland gab und da Norbert Elias ihr +Theoretiker ist. Ich bezweifle auch nicht, da diese hfische +Zivilisation in einigen Lndern wie Frankreich auf die aufsteigenden +brgerlichen Schichten abgefrbt und deren nationalen Habitus geprgt +hat, wiewohl man hinzufgen sollte, da dies historisch gesehen eher +die Ausnahme als die Regel war. Das Brgertum ist eine sehr +abendlndische Erscheinung, und selbst innerhalb des Abendlandes gibt +es zahlreiche Flle, in denen es sich dem Einflu des Hofes entzog. +Der Hoffnung des Liberalismus, die Brger mchten sich die Manieren +der guten Gesellschaft aneignen, whrend die 'historischen Klassen' im +Verdienen tchtiger werden sollten, hielt schon Karl Kraus entgegen, +da "aller Wahrscheinlichkeit nach schlielich die historischen +Klassen ohne irdische Gter und mit schlechten Manieren, die +vordringenden Schichten aber mit zweifachem Besitzstand die +Gesellschaft reprsentieren werden" (Kraus 1916, 7). Schlielich ist +auch unbestritten, da es in der Neuzeit eine weitausgreifende +Affektmodellierung gegeben hat, in die immer weitere Schichten +einbezogen wurden. + + +"evolutionr wirkende Kontinuitt des Zivilisationsbegriffs" behauptet +und die Geschichte der hfischen Affektmodellierung zur "Vorgeschichte +der Modernisierung", gar zur "Vorgeschichte des modernen +Sozialcharakters" erklrt (Kuzmics 1989, 82, 89f.). Eine derart +notwendige Beziehung, wie sie hier unterstellt wird, existiert nicht. +Es gibt sie historisch nicht, weil die Geschichte zahlreiche hfische +Gesellschaften kennt, die sich nicht zu berufsbrgerlichen +Gesellschaften entwickelt, sondern stattdessen in +Kriegergesellschaften zurckverwandelt haben - Japan nach der Heian- +ra ist hierfr vielleicht das beste Beispiel; der eigentliche +Durchbruch zur berufsbrgerlichen Gesellschaft erfolgte dagegen in +Lndern, in denen nach Elias' eigener Einsicht der Hof nur eine +geringe oder gar keine Rolle spielte - England und den USA (1975, 104, +147f.). Es gibt eine solche notwendige Beziehung aber auch nicht im +logisch-strukturellen Sinne, weil zwischen der Affektmodellierung, wie +sie fr Interaktionssysteme typisch ist, und derjenigen, wie sie +Organisationssysteme fordern, ein Hiatus klafft. Mit Robert Muchembled +ist davon auszugehen, da die fr die hfische Welt typische +Verfeinerung der Sitten vor allem die Funktion einer Abgrenzung und +Distanzierung der Oberschichtenkommunikation von anderen +Kommunikationsformen hatte und Muster entwickelte, die sich nur um den +Preis des Lcherlichen, Parvenuhaften von anderen Schichten kopieren +lieen - schon deshalb, weil keine dieser Schichten ber den +erforderlichen Abstand zur Welt des Geldes und des 'Berufs' verfgte. +Der Zwang zur Langsicht, die Schemata der Verhaltensregulierung und - +kontrolle, die fr diese Schichten mageblich sind, resultieren aus +den Zwngen dieser Welt, nicht aus den Vorgaben der +Oberschichtenkommunikation; Zivilisierung ist keine Bewegung von oben +nach unten, die immer noch andauert, sondern eine Bewegung, die die +Kluft zwischen oben und unten zu zementieren trachtet: + + +Mechanismus zur Nivellierung der Unterschiede. Er bringt im Gegenteil verschiedenartige Wesen hervor, die auf verschiedenen +Stufen der soziokulturellen Hierarchie angesiedelt sind. Diese Menschen - das gilt selbst noch fr das Ende des Ancien Rgime - sind +durchaus nicht aus einem Stck gemacht, sondern fgen sich in Gesellschaftsschichten ein, die unterschiedliche Verhaltensstrnge +und gegenstzliche konomische Entwicklungen beerben. Mit anderen Worten, nichts wre verfehlter, als die Entwicklung der +Mentalitten vom ausgehenden Mittelalter bis zur Revolution als eine Art unbestimmten Gesamtfortschritt darzustellen, dem sich die +einzelnen Gruppen dann mehr oder weniger vollkommen anpaten" (Muchembled 1990, 184). + + +Rhythmus durch die Ausdifferenzierung neuer, eigengesetzlicher +Funktionssysteme und Organisationen bestimmt wird. Jeder dieser Schbe +ist, psychogenetisch gesehen, mit einer Schwchung, wenn nicht sogar +mit einem Abbau der bis dahin dominierenden Instanzen verbunden. Das +brgerliche Ich ist, als psychische Instanz, schwcher als das +hfische, weil es nicht nur mit dem Es und der Auenwelt, sondern auch +mit einem ber-Ich zu rechnen hat, das vom Individuum eine +Staatsfrmigkeit seiner Gesinnungen, nicht blo seiner ueren +Handlungen verlangt (Vowinckel 1983, 150). Das nachbrgerliche Ich ist +noch schwcher, weil es nicht mehr auf dem Weg einer Identifikation +mit dem Aggressor - dem dipalen ber-Ich -Strke gewinnen kann, +vielmehr schutzlos und unvermittelt der Gewalt prdipaler, +archaischer Konfigurationen ausgeliefert ist, die den Anspruch auf +Grandiositt und Omnipotenz erheben. Mit jedem neuen Schub in der +Entwicklung der Sozialkontrolle erhlt somit das Ich neue und stets +mchtigere Gegner, die seine Souvernitt fortwhrend einschrnken - +und damit seine Fhigkeit zu dem, was Elias mit Recht als +Wesensmerkmale des zivilisierten Habitus herausstellt: Selbstdistanz, +Selbstkontrolle, Takt, 'taking the role of the other', das Spiel mit +dem Schein und nicht zuletzt auch die Technik der Simulation, die dem +protestantischen Kleinbrger als Unaufrichtigkeit erscheinen mag, in +Wirklichkeit aber die Fhigkeit bedeutet, die anderen mit der Last des +eigenen Selbst zu verschonen (Sennett 1983, 299). + + +der Zivilisation. Sie verallgemeinert keineswegs die Formen, die in +der hfischen Zivilisation auf einen kleinen Kreis von Privilegierten +beschrnkt waren, sondern beseitigt mit dem Privileg auch diese +Formen. Sie fhrt nicht zu einer Anverwandlung der bisher +Ausgeschlossenen an die Ausschlieenden, sondern umgekehrt zum +Vordringen des aus der Zivilisation Ausgeschlossenen. Seit dem 18. Jh. +ist die vorherrschende Tendenz in der Politik wie in der Kunst eine +nicht abreiende Kette von Demaskierungen, Entlarvungen und +Enthllungen, in der eine Konvention und Tradition nach der anderen +demontiert wird und immer neue Schichten des Verdrngten ans Licht +gezogen werden; und wenn es eine Zeitlang so schien, als knnte mit +der Ausweitung des ffentlichen Erziehungswesens ein Gegengewicht +geschaffen werden, so ist dieses mittlerweile so stark segmentiert und +mit anderen Aufgaben berfrachtet, da selbst der amerikanische +Prsident sich alarmiert zeigt. Die sprachlichen Ausdrucksformen der +Unterschichten, insbesondere die Koppelung von Sexualitt und Gewalt, +sind lngst gesellschaftsfhig geworden und machen, wie ein Blick in +den 'Anti-dipus' zeigt, selbst vor dem wissenschaftlichen Diskurs +nicht mehr halt; die Distanzierung vom Krper, die diesen zum Medium +der Demonstration festgefgter Konventionen machte, ist einer +aufdringlichen Thematisierung desselben gewichen, bei der der Krper +zwar mit Signalen berladen und - wie in der Punk-Bewegung - in +extremer Weise stilisiert wird, jedoch nichts reprsentiert und nichts +mehr mitzuteilen hat (Bette 1987; Georgieff 1987); und wer gezwungen +ist, sich am Straenverkehr zu beteiligen, wird rasch feststellen +mssen, da auch die Survival-Mentalitt der Unterschichten sich +allgemeiner Anerkennung erfreut. Elias pflegt in seinen letzten +Arbeiten hufig auf die sinkenden Unfallziffern zu verweisen, um seine +These vom gestiegenen Selbstzwang zu erlutern (1978, 22). Doch fnf +Minuten auf der Autobahn sollten eigentlich gengen, um sich davon zu +berzeugen, da hier nicht die Zivilisation herrscht, sondern das +Gesetz des Dschungels. Nicht da dort jeder Mensch jedem Menschen ein +Wolf wre, das hatte schon Hobbes mit seinem bekannten Diktum nicht +gemeint. Es gibt auch heute unendlich viele Beispiele von +Zuvorkommenheit und Hilfsbereitschaft. Aber eine Welt, in der man bei +jedem Streit um eine Parklcke, bei jeder Beschwerde ber zu lauten +Partylrm damit rechnen mu, erschossen, erstochen oder +zusammengeschlagen zu werden, ist von der Zivilisation noch immer +genau so weit entfernt wie der von Hobbes beschriebene Kriegszustand, +"which is worst of all, continual fear, and danger of violent death; +and the life of man, solitary, poor, nasty, brutish, and short"15. + + +Leitbegriff der Zivilisationstheorie zu revidieren. Anstatt in ihm +nach dem Vorbild der franzsischen Aufklrung zwei nur zufllig- +historisch verbundene Komplexe zusammenzuzwingen - die hfischen +Interaktionsregeln und die Rationalittsstrukturen organisierter +Sozialsysteme - sollte man ihn wieder enger fassen und seiner +geschichtsphilosophischen Konnotationen entkleiden. Vielleicht hatte +Kant doch recht, als er vorschlug, den Zivilisationsbegriff auf +"Manieren, Artigkeit und eine gewisse Klugheit" zu beschrnken, +vermittels welcher der Mensch 'gesellschaftsfhig' werde - womit er +natrlich die 'gute Gesellschaft' meinte (Kant 1968, XII, 707). Eine +solche Eingrenzung htte jedenfalls den Vorzug, da sie uns deutlicher +als Elias die Vergnglichkeit der Bedingungen vor Augen fhrte, an die +Zivilisation nun einmal gebunden ist, und sie knnte es vielleicht +ermglichen, die Theorie der Zivilisierung durch die lngst +berfllige Theorie der Entzivilisierung zu ergnzen. + + +keine Rcksicht halten, auch als bloe Spiel-Form nicht. - Und ebenso schrumpft in einer Welt, die uns um Mue und die anderen +Bedingungen des Privaten betrgt, die Subtilitt unseres seelischen Privatlebens" (Anders 1986, 13). + + + + + + + + + + +Zivilisation, so wre dazu kaum etwas geeigneter als das Konzept der +Disziplinargesellschaft, das Michel Foucault in den siebziger Jahren +entwickelt hat. Gewi ist der Gegensatz nicht absolut. Beide Autoren +interessieren sich fr Prozesse der Normierung und Regulierung, beide +sehen eine enge Beziehung zwischen Individuierung und Subjektivierung +einerseits, sich verdichtenden Machtverhltnissen andererseits. +Foucault bezieht diese Entwicklungen jedoch nicht wie Elias auf ein +Zentrum, und er sieht sie auch nicht aus der Perspektive eines +zunehmenden Souvernittsgewinns der (Welt-) Gesellschaft und des +einzelnen. Die moderne Gesellschaft gilt ihm als polyzentrisches +Geflecht von Disziplinarapparaten und die Individuierung als +Manifestation der Macht. Anstelle der Vision einer friedlichen +Kooperation steht bei ihm die eines 'verallgemeinerten Krieges' (1978, +40)16 , anstelle der Aufhebung willkrlicher Macht deren Verfestigung +zu 'Herrschaftszustnden' (1985, 11). "Die Menschheit", so Foucaults +nietzscheanisches Credo, "schreitet nicht langsam von Kampf zu Kampf +bis zu einer universellen Gegenseitigkeit fort, worin die Regeln sich +fr immer dem Krieg substituieren; sie verankert alle ihre +Gewaltsamkeiten in Regelsystemen und bewegt sich von Herrschaft zu +Herrschaft" (1974, 95). + + +nicht mehr zu berblicken. Vieles davon ist Einfhrung oder Paraphrase +und wird so schnell vergessen werden, wie es geschrieben wurde17 . +Doch hat Foucault inzwischen auch ernstzunehmende Gesprchspartner +gefunden, die so schwerwiegende Einwnde gegen seinen Entwurf +formuliert haben, da sich dessen einfache Fortschreibung oder +Kanonisierung verbietet. Ich werde zunchst Foucaults Grundgedanken +knapp skizzieren, danach die wichtigsten Gegenargumente prsentieren +und anschlieend errtern, inwieweit die Theorie der +Disziplinargesellschaft noch zu halten ist. + + + + + + + + + + +Genealogie der Disziplin religisen Faktoren ein erhebliches Gewicht +zu. Schon der vorchristliche, vor allem aber der christliche Orient +habe einen spezifischen, pastoralen Machttypus entworfen, dessen Pole +die Herde und der dieselbe zusammenhaltende Hirt oder Schfer seien; +diese Pastoralmacht habe sich dann vom 2. Jh. an ununterbrochen +verfeinert und sich mit der politischen Macht assoziiert, wodurch zwei +verschiedene Machttechniken miteinander verbunden worden seien: das +kirchliche Gestndnis- und Beichtritual und die Formulierung und +Vollstreckung des Gesetzes (1982, 17ff.). Aus dieser Kombination, die +zum erstenmal im Inquisitionsproze praktische Gestalt angenommen +habe, sei jene doppelte Bedeutung von 'Subjektivierung' entsprungen, +die seither das Abendland bestimmt habe: Subjektivierung im Sinne +einer Unterwerfung unter Kontrolle und Abhngigkeit und +Subjektivierung im Sinne einer Bindung an die eigene Identitt qua +Bewutsein und Selbsterkenntnis (1987, 247f.) + + +nur geringe Aufmerksamkeit. Weitaus intensiver befat er sich dagegen +mit dem eigentlichen Formierungsstadium, das er auf das 17. und 18. +Jh. datiert. Zwar dominiert zu diesem Zeitpunkt mit der absoluten +Monarchie noch eine Form der Macht, "die wesentlich an der Abschpfung +und am Tode orientiert war" (1977, 110) - eine Form, die sich +verfassungsrechtlich in der Souvernitt und der ihr +korrespondierenden Gesetzgebungskompetenz manifestiert, und die +strafrechtlich in den Riten und Marterzeremonien der +'Abschreckungsmacht' erscheint. Zur gleichen Zeit aber bereitet sich +gesamtgesellschaftlich ein Umbruch vor, in dessen Verlauf auch die +Macht eine tiefgreifende Transformation erfhrt. Am Beispiel der +buerlichen Delinquenz zeigt Foucault, da das klassische Zeitalter +der Schauplatz neuer Formen der Gesetzwidrigkeit ist, die sich nicht +mehr primr gegen die Rechte des Adels oder des Knigs richten, +sondern gegen Gter; ein Wandel, mit dem die Bevlkerung auf neue +Formen der Kapitalakkumulation, der Produktionsverhltnisse, der +Aneignungsstrukturen reagiert. Mit dem Anwachsen kapitalistischer +Produktionsapparate und dem demographischen Wachstumsschub des 18. +Jhs. verbreitern und vervielfachen sich die Konfliktlinien und lassen +dadurch die klassische, auf der Veranstaltung exemplarischer +Straffeste beruhende Souvernitts- und Abschreckungsmacht zunehmend +unwirksam werden (1976, 110, 280). + + +engen Rahmen herauswchst, in den sie durch die Institutionen der +Monarchie gebannt war, ist die Zeit, in der neue Verfahren und +Mechanismen der Macht auf den Plan treten; Verfahren, "die nicht mit +dem Recht, sondern mit der Technik arbeiten, nicht mit dem Gesetz, +sondern mit der Normalisierung, nicht mit der Strafe, sondern mit der +Kontrolle, und die sich auf Ebenen und in Formen vollziehen, die ber +den Staat und seine Apparate hinausgehen" (1977, 110f.). Welche +Verfahren sind hier gemeint? + + +Ancien Rgime beginnen sich Forderungen der Aufklrer nach +Humanisierung des Strafrechts und konomisierung der Strafgewalt in +einer Reihe von Reformen geltend zu machen, die die Ersetzung der +alten 'konomie der Verausgabung und des Exzesses' durch eine +'konomie der Kontinuitt und der Dauer' ermglichen. Whrend die +absolutistische Souvernitts-Macht mit ihrer Sprunghaftigkeit und +Regellosigkeit sowie der Weitmaschigkeit ihres Kontrollnetzes den +Gesetzwidrigkeiten der Untertanen weiten Raum lie, bemhen sich die +Justizaufklrer darum, durch Milderung der Strafen, sorgfltigere +Kodifizierung und Rationalisierung der Gewaltausbung die Basis fr +einen neuen gesamtgesellschaftlichen Konsens hinsichtlich der +Strafgewalt zu schaffen, um eine wirksamere Verteidigung gegen einen +Gegner zu ermglichen, "der jetzt raffinierter, aber auch verbreiteter +im gesellschaftlichen Krper ist". Indem sie die Willkr des Souverns +anprangert, bereitet die Aufklrung zugleich den Boden fr ein neues, +perfekteres System der sozialen Kontrolle. Richter und Anklger, +Verteidiger und Angeklagte werden in ein diskursives Gefge +eingeschlossen, dessen Sinn nicht in der schreckenerregenden +Wiederherstellung der Souvernitt, sondern in der +Wiederinkraftsetzung des Strafgesetzbuches bestehen soll (1976, 113, +141). + + +Definition schuldig bleibt, meint im wesentlichen folgendes: Auf der +einen Seite haben wir es mit einer Kodifizierung und Rationalisierung +zu tun, die den Untertanen zweifellos neue Sicherheiten bringt. Die +Macht wird an Regeln gebunden, das Individuum als Rechtssubjekt +anerkannt, die Strafe in ein Mittel verwandelt, das die +Rechtssubjektivitt wiederherstellen soll. Auf der anderen Seite aber +wird gerade dadurch eine uerste Verfeinerung und Vervollkommnung der +Unterwerfung ermglicht. Der Kodifizierung entspricht eine zunehmende +Individualisierung der Strafen und eine Objektivierung von Verbrechen +und Verbrecher. Das Rechtssubjekt wird Gegenstand einer +klassifizierenden und vergegenstndlichenden Betrachtungsweise, die +den einzelnen in ein komplexes Tableau justiziabler Eigenschaften und +Tatbestnde einordnet. Er wird geprft, beurteilt, registriert, so da +jede seiner Eigenschaften mittels einer Reihe von Codes und deren +Korrelierung dokumentierbar wird. Durch die vielfltigen Praktiken der +berwachung und Kontrolle, der Einstufung und der Zuordnung bildet +sich, was Foucault als die andere, "dunkle" Seite des Rechtssubjekts +bezeichnet: das "Disziplinarindividuum", das von den neuen +Machttechniken fabriziert wird (1976, 396). + + +Strafjustiz. Foucault sprt sie auf in der neuen Einstellung der +Gesellschaft gegenber dem Wahnsinn, welcher ausgegrenzt, interniert +und in eine Form der Geisteskrankheit verwandelt wird, mit der die +Gesellschaft nur noch ber das abstrakte Medium der Psychiatrie +kommuniziert. Er entdeckt sie in der explosionsartigen Vermehrung der +Diskurse ber Sexualitt, die zur Bildung eines gigantischen Registers +der Lste und Perversionen fhrt. Er lokalisiert sie im rztlichen +Blick und in der wissenschaftlichen Kontrolle der Krankheiten und +Infektionen, in der administrativen Kontrolle der Heilmittel, der +Todesflle und Geburten, der Verstellungen und Abwesenheiten, +schlielich in der militrischen Kontrolle der Deserteure, der +fiskalischen Kontrolle der Waren, der konomischen Planung der +Produktionsablufe. In allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens +ist das klassische Zeitalter der Schauplatz einer unerhrten +Verdichtung der Diskurse und Identifikationsmechanismen, die allesamt +nur das eine Ziel haben: die Herstellung des durchschaubaren und damit +kontrollierbaren Individuums. "Die 'Aufklrung', welche die Freiheiten +entdeckt hat", schreibt Foucault, "hat auch die Disziplinen erfunden" +(1976, 285). + + +eng aufgefat werden. Sie darf, erstens, nicht allein auf die +Implementierung eines bestimmten Diskurstyps reduziert werden, denn +sie hat auch nicht-diskursive Wurzeln: Etwa die Mechanismen, die in +den Klstern und Kasernen, Manufakturen und Spitlern, Kollegs und +Internaten entwickelt wurden. Sie darf, zweitens, nicht als Effekt +eines Zentrums, einer gesellschaftlichen Zentralinstanz oder einer +herrschenden Klasse, begriffen werden, da hiermit ihre pluraler, +multipler Charakter verfehlt wrde: die Disziplinargesellschaft ist +nicht das Ergebnis einer, sondern zahlreicher Projektionen - der +Projektion militrischer Methoden auf die Industrie; der +maschinenfrmigen Funktionsweise auf die lebendige Arbeit; der +Gefngnisdisziplin auf die Gesellschaft (1976, 284). Und sie darf, +drittens, auch nicht als bloes Verhltnis der Repression verstanden +werden, wie dies in der Logik des brgerlichen Legalismus oder der +marxistischen Auffassung liegt. Die Disziplinarmacht, sagt Foucault, +setzt zwar Unterwerfung voraus, sie parzelliert die Individuen, +klassifiziert sie und fgt sie in eine hierarchische Ordnung ein, die +durch przise Befehlssysteme strukturiert ist. Sie erschpft sich +jedoch nicht darin, sondern produziert ihrerseits Individuen, die der +von ihr geschaffenen Ordnung gem sind. "Man mu aufhren, die +Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur +'ausschlieen', 'unterdrcken', 'verdrngen', 'zensieren', +'abstrahieren', 'maskieren', 'verschleiern' wrde. In Wirklichkeit ist +die Macht produktiv; und sie produziert Gegenstandsbereiche und +Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse +dieser Produktion" (1976, 250). + + +Macht in der modernen Form des Gefngnisses, wie sie seit 1830 unter +dem Einflu von Benthams 'Panopticon' (1787) Gestalt gewinnt. Als eine +Institution, deren Aufgabe sich keineswegs darauf beschrnkt, den +Freiheitsentzug zu organisieren, vielmehr von Anfang an darin besteht, +"Transformationen an den Individuen vorzunehmen" (1976, 317), +verkrpert das Gefngnis gleichsam die Elementarform der +Disziplinargesellschaft, hnlich wie fr Marx die Ware als +Elementarform der brgerlichen Gesellschaft fungiert. Das Gefngnis +ist zugleich Kaserne und Schule, Werkstatt und Spital; es unterdrckt +die gesellschaftlich unerwnschten Eigenschaften und modelliert die +erwnschten. Sein Produkt sind Individuen, "die nach den allgemeinen +Normen einer industriellen Gesellschaft mechanisiert sind" (1976, +310). Als ein vollkommener Disziplinarapparat erfat es smtliche +Aspekte des Individuums: seine physische Erscheinung wie seine +moralische Einstellung, seine Arbeitsneigung wie sein +Alltagsverhalten; und alle diese Manifestationen werden nicht nur +kontrolliert und reglementiert, sondern von Grund auf reformiert, bis +sie den geltenden Standards entsprechen. Das 'Kerkersystem', das +Foucault zufolge um 1840, dem Erffnungsjahr der Jugendstrafanstalt +von Mettray, vollstndig ausgebildet ist, enthlt in gebndelter und +konzentrierter Form all jene Mechanismen der Normalisierung und +Disziplinierung, die seither zu Strukturmerkmalen der +Disziplinargesellschaft geworden sind. + + +Ausdehnung und Erweiterung: vom 'Kerker-System' der Gefngnisse und +geschlossenen Anstalten zu dem, was Foucault den 'Kerker-Archipel' +bzw. das 'groe Kerker-Kontinuum' nennt (1976, 382f.). Vermittelt ber +zahlreiche Sttzpunkte - die Waisenhuser, die Asyle fr 'gefallene +Mdchen', die Lehrlingsheime, die korrespondierenden Einrichtungen wie +Wohlfahrtsgesellschaften, Sittlichkeitsvereine, Arbeitersiedlungen und + Wohnheime - breitet sich das panoptische Schema ber die gesamte +Gesellschaft aus und berzieht alle sozialen Bereiche mit dem groen +Kerker-Netz, dessen primre Funktion in einer alles umfassenden +Normierung besteht. Dies sicher nicht ohne Widerstand. Wo Macht ist, +sagt Foucault, ist auch Widerstand, und er fgt hinzu: wenn es +Machtbeziehungen gibt, so berhaupt nur deshalb, weil es Freiheit +gibt, (1977, 116; 1985, 2O). Aber dieser Widerstand ist keine Mauer, +kein Block, der der Disziplinierung Grenzen setzt; er ist selbst eine +Manifestation von Macht, eine Art Antikrper, der die Disziplinarmacht +attackiert und zu Mutationen und Metamorphosen ntigt. Um die +Widerstnde zu berwinden, geht die Disziplin von dem starren, +statischen Tableau des klassischen Zeitalters zu neuen, flexibleren +Formen der Regulierung ber, deren Hauptziel in einer Steigerung der +Funktionen liegt; und dieses Ziel wird zunehmend nicht nur mittels der +rigiden Anpassung der Individuen an die Norm erreicht, sondern +ebensosehr durch Anpassung der Norm an die individuellen Bedingungen +durch die Verfahren der modernen Humanwissenschaften: + + +Beziehungen ihre Vollendung: Diese verluft von der Teilung der Welt zur Herstellung der Welt; diese wiederum vom Traum einer +mechanischen Imitation der Welt (durch Gesetze) zu dem einer Erzeugung von Organismen, von der Objektivierung der Welt auf +die Individuierung der Menschen. Der Akzent der Individuierung selbst wird dabei von der objektivierenden Kontrolle der Einzelnen +zur subjektivierenden Selbststeuerung und zur Manipulation von Gruppen verlagert. Der Vernderung der Gegenstandsbereiche +entspricht die der Machttechniken, die Entwicklung von der Gewaltrationalitt zur Testwissenschaft" (Dauk 1989, 131). + + +Subsumtion der Gesellschaft oder eines Teils derselben unter ein vorab +feststehendes Schema, sondern weit eher der Zirkel von Manipulation +und rckwirkendem Bedrfnis, wie ihn Horkheimer und Adorno in der +'Dialektik der Aufklrung' entfalten. Foucault hat von der Dialektik, +insbesondere von Hegel, nicht viel gehalten (Knzel 1985). Seine These +indes, da in der Geschichte der Disziplinierung ein Wechsel von +subsumtionslogischen Praktiken zu netzfrmigen und zirkulren +Strukturen zu beobachten ist, vollzieht in etwas roheren Begriffen den +bergang von der Transzendentalitt zur Totalitt, wie ihn Hegel +gegenber Kant, wenn auch unter ganz anderen Voraussetzungen, +vollzogen hat. Wie wir sehen werden, rhren die Schwchen der Theorie +der Disziplinargesellschaft zu einem nicht geringen Teil aus der +Weigerung Foucaults, daraus die ntigen kategorialen Konsequenzen zu +ziehen. + + + + + + + + + + +hervorgerufen hat, empfiehlt es sich, noch fr einen Augenblick bei +den Beziehungen zu verweilen, die sich zu hnlich gelagerten +Bestrebungen in der modernen Soziologie ergeben. Foucaults Analyse +erinnert an manchen Stellen an Max Weber, der in der Disziplin eine +Schlsselkategorie der modernen Gesellschaft gesehen hatte - der +brokratischen Amtsdisziplin, der Parteidisziplin, der Disziplin des +Massenheeres, der Arbeitsdisziplin und nicht zuletzt der religisen +Disziplin der 'methodischen Lebensfhrung'. Sie weist, etwa in der +Behandlung der Manufaktur, Berhrungspunkte zu Marx auf, ferner zu +Elias, zu Oestreichs Theorie der 'Sozialdisziplinierung' und nicht +zuletzt zum kritischen Marxismus von Lukcs bis Adorno, dessen +Zentralthema die Beziehung zwischen Warenform, Rationalisierung und +Disziplinierung war18. + + +teils schlicht aus Unkenntnis, wie er selbstkritisch mit Bezug auf die +Kritische Theorie gesteht (1983), teils in bewuter Abgrenzung von +einer Diskurstradition, die ihm allzusehr von der Obsession einer +'globalen Geschichte' geschlagen zu sein scheint, d.h. dem +Unterfangen, den Gesamtzusammenhang einer Epoche oder einer +Gesellschaft aus einer zentralen Struktur abzuleiten. Nach seiner +berzeugung ist die Annahme, da sich innerhalb einer Gesellschaft ein +System homogener Beziehungen feststellen lt, ein Netz von +Kausalitten, das eine Zurckfhrung der verschiedenen Elemente auf +ein verborgenes Zentrum gestatte, pure Ideologie, eine Illusion, in +der sich der 'transzendentale Narzimus' des abendlndischen Denkens +spiegelt: der Glaube an die Stifterfunktion eines souvernen Subjekts +und an die Garantie, "da alles, was ihm entgangen ist, ihm +wiedergegeben werden kann" (1973, 23). So stark ist Foucaults +antithetische Fixierung auf diesen Subjektivismus, da er die +Mglichkeit einer nichtsubjektivistischen, um eine Theorie der +gesellschaftlichen Synthesis zentrierten 'globalen Geschichte', wie +sie in den oben erwhnten Arbeiten durchaus angelegt ist, an keiner +Stelle in Erwgung zieht. + + +zu fllen. Macht, im Nietzscheschen Sinne eines lebensphilosophisch- +ontologisch verstandenen 'Willens zur Macht', avanciert fr ihn zum +Universalschlssel fr alle gesellschaftlichen und geistigen +Phnomene. Auf ihr beruhen die Beziehungen zwischen den Geschlechtern +ebenso wie die zwischen den Generationen, die Beziehungen innerhalb +einer Institution wie die zwischen Institutionen im ganzen, die +Beziehungen zwischen Individuen wie die zwischen Gruppen und Klassen. +Das Individuum selbst ist, wie gezeigt, ein Produkt der Macht, "eine +Form der Individuation der Disziplin" (1982, 3). Das gleiche gilt fr +die modernen, um das Individuum zentrierten Diskurse der +Humanwissenschaften, wie fr den wissenschaftlichen Diskurs +schlechthin. Man msse, so verkndet Foucault, einer Denktradition +entsagen, derzufolge es Wissen nur dort geben knne, wo die +Machtverhltnisse suspendiert seien. "Eher ist wohl anzunehmen, da +die Macht Wissen hervorbringt (und nicht blo frdert, anwendet, +ausnutzt); da Macht und Wissen einander unmittelbar einschlieen; da +es keine Machtbeziehungen gibt, ohne da sich ein entsprechendes +Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig +Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert" (1976, 39). Wie in der +idealistischen Philosophie und ihren sptromantischen Wurmfortstzen +die ganze Welt als Geist oder Wille gedacht wird, so enthllt sich +auch bei Foucault das Sein als Manifestation eines einzigen Prinzips, +das in unterschiedlichen Aggregatzustnden auftritt: in reiner, +bewegter Form als "immerwhrende Schlacht", als Strom von Krften und +Gegenkrften; und in erstarrter, blockierter Form, in der sich die +Macht zur 'Herrschaft' verfestigt hat (ebd. 38; 1985, 11). Man fhlt +sich an die Metaphysik Heraklits erinnert - freilich an eine Version, +in der der Logos nicht lnger Harmonie stiftet, sondern selbst zu +einer Funktion des Kampfes geworden ist. + + +Konzept der Disziplinargesellschaft angreifbar gemacht. Die Kritik +richtet sich vor allem gegen den Reduktionismus, der dieses Konzept +durchzieht. Die Machttheorie, lautet ein erster Einwand, lse die +eigensinnige Entwicklungslogik rechtlicher und moralischer Normen in +die blindzufllige Evolution von Gewaltverhltnissen auf und bergehe +damit "die unverkennbaren Gewinne an Liberalitt und + Rechtssicherheit", die doch nicht zuletzt auf straf- und +strafprozerechtlichem Gebiet evident seien19. Sie reduziere, so der +zweite Einwand, die komplexen Vorgnge der Sozialisation und +Individuation in behavioristischer Manier auf eine Folge von +unentwegten Konditionierungen und setze Individualitt zu einer "durch +Auenreize produzierte(n), mit beliebig manipulierbaren +Vorstellungsinhalten belegte(n) Innenwelt" herab; damit werde der +Gewinn an Freiheit und Ausdrucksmglichkeit verspielt, den die +"Etablierung und Verinnerlichung der subjektiven Natur" gebracht habe +(Honneth 1985, 210; Habermas 1985, 337, 342; Turner 1987, 233, 238). +Ein dritter Einwand zielt auf die machttheoretische Auflsung der +Geltungsproblematik. Foucault, so Honneth, stelle sich nicht der +Frage, wie denn die blo unter dem Gesichtspunkt sozialer +Machtgewinnung entwickelten Diskurse in ganz anderen +Handlungskontexten, etwa dem der technischen Beherrschung von +Naturprozessen, von Erfolg gekrnt sein knnten 20. Da die +vollstndige Leugnung universalistischer Geltungsansprche im Ergebnis +auf ein "relativistisches Selbstdementi" auch der Machttheorie +hinauslaufe, hat Habermas in einer scharfsinnigen Argumentation +dargelegt (Habermas 1985, 327; Fink-Eitel 1980, 67f.; Bambach 1984; +Taylor 1984). Weder fr die Eigenart normativer noch fr diejenige +kognitiver Mechanismen, so lt sich die Kritik resmieren, hat die +Machttheorie einen angemessenen Raum. Sie ist deshalb ungeeignet, die +Komplexitt moderner Gesellschaften zu erfassen. + + +Mechanismen zuerst zu sprechen, so ist Foucault zwar zuzugeben, da +eine ganze Reihe von Diskursen in der frhen Neuzeit mit politischen +Vorzeichen ins Dasein tritt und somit durchaus einer +machttheoretischen Interpretation entgegenkommt. Es gibt in der Tat +eine politische Anatomie und eine politische Technologie, wie ja auch +bekanntlich die konomie sich zunchst als politische konomie +begreift und offen die enge Verzahnung von Herrschaftsinteressen und +Wirtschaftsordnung einbekennt. Alle diese Diskursformationen +verweisen, wie unschwer zu sehen ist, auf die Intensivierung der +politischen Rationalisierung, welche durch die Entstehung eines +europischen Staaten- und Weltsystems seit dem 16. Jh. ausgelst wurde +und namentlich in einigen kontinental-europischen Lndern zu einer +weitreichenden Militarisierung und Brokratisierung fhrte, aus der +der well-ordered police state des 17. und 18. Jhs. mit seiner Politik +der Sozialdisziplinierung hervorging (Raeff 1983; Rassem 1983; Schulze +1987). + + +vermittelte politische Rationalisierung und deren Ausgreifen auf die +unterschiedlichsten Lebensbereiche beschreibt, ist ihm nicht zu +widersprechen. Die Machttheorie zielt indes darber hinaus und setzt +sich dadurch der Kritik aus. Wenn es nmlich einen herausragenden Zug +in der Entwicklung seit dem 19. Jh. gibt, dann den, da sowohl die +Gesellschaft als auch die Wissenschaft immer weniger durch ihr +politisches Vorzeichen bestimmt sind und sich stattdessen in Formen +abstrakt und anonym gewordener Verhltnisse realisieren, die sich mit +dem Begriff der Macht nur mehr um den Preis einer Contradictio in +adiecto bezeichnen lassen. Die unterschiedslose Subsumtion der +politisch strukturierten Gesellschaft des Ancien Rgime und der +modernen kapitalistischen Gesellschaft unter einen Begriff der Macht, +der von Foucault selbst als "Fortsetzung des Krieges mit anderen +Mitteln", als eine Form "kriegerischer Herrschaft " und als +"verallgemeinerter Krieg" (1978, 71, 40; 1976, 38, 217) definiert +wird, verdeckt die grundlegende Tatsache, da die heutige Welt, wie +Marx es ausgedrckt hat, eine Welt der sachlichen +Abhngigkeitsverhltnisse im Gegensatz zu den persnlichen ist, eine +Welt, in der die Individuen "von Abstraktionen beherrscht werden, +whrend sie frher voneinander abhingen" (Marx 1974, 81f.). + + +Gesellschaft, der sich nach Marx bekanntlich so sehr anonymisiert, da +selbst der Kapitalist im Zuge der Entwicklung zum Aktienkapital als +berflssige Person aus dem Produktionsproze verschwindet. Er gilt in +noch eminenterem Sinne fr Wissenschaft und Technik, die mit +Willenskategorien nicht mehr begriffen werden knnen. Wissenschaft und +Technik gehorchen keinem einzigen der Kriterien, die Foucault fr die +Macht anfhrt. Sie sind weder relational noch intentional, noch +partikular-interessengebunden, noch militrisch-kriegerisch, obwohl +ihnen diese Dimensionen sekundr durchaus zukommen knnen. Ihre +Kriterien sind ausnahmslose Geltung (solange keine Falsifizierung +vorliegt), absolute Notwendigkeit, durchgehende rationale +Gesetzmigkeit und Autonomie im Sinne der Kontrolle ber ihre +Voraussetzungen. Wissenschaft und Technik sind keine Funktion der +Macht, sie ersetzen vielmehr das Gefge wechselnder +Willensverhltnisse durch ein System, das selbstreferentiell und +'autopoietisch' (Luhmann) prozediert, d.h. nur solche Elemente +verwendet, die innerhalb des Systems selbst konstituiert werden. Ein +solches Verstndnis schliet nicht aus, die Autopoiesis von +Wissenschaft und Technik ihrerseits als gesellschaftlich produziert +und durch die herrschende gesellschaftliche Struktur vermittelt zu +begreifen; wohl aber, sie wie Foucault auf ein bloes Machtspiel zu +reduzieren. + + +Hinblick auf normative Mechanismen. Zwar fehlt der Begriff der 'Norm' +durchaus nicht in Foucaults Arbeiten, wie dies ja auch bei +Untersuchungen, die mit dem Strafsystem zu tun haben, kaum zu +vermeiden ist. Wie Canguilhem jedoch, auf dessen Vorarbeiten er sich +explizit beruft, versteht Foucault diesen Begriff ausschlielich im +Sinne der modernen Industrienormen, als ein Richtma, das dazu dient, +"einem Daseienden, Gegebenen eine Forderung aufzuzwingen, von der aus +sich Vielfalt und Disparatheit dieses Gegebenen als ein nicht blo +fremdes, sondern feindliches Unbestimmtes darstellen" (Canguilhem +1977, 163). Die Macht der Norm kommt nach diesem Verstndnis vor allem +in der Disziplin zum Ausdruck, in den verschiedenen Techniken der +Normierung und Normalisierung, die die Individuen einem System +zwanghaft fixierter Verhaltensschemata unterwerfen und dadurch +Stabilitt und Homogenitt des Herrschaftsgefges sichern. +"Disziplinarische Normalisierung", sagt Foucault, "ist der Entwurf +eines optimalen Modelles, die Operation der Disziplin besteht darin, +die Leute an dieses Modell anzupassen" (1982, 8). + + +einfngt, die in den herkmmlichen Ideen- und Rechtsgeschichten +notorisch unterbelichtet bleiben; der Stellenwert, der ihnen in einer +nichtreduktionistischen Theorie der Rationalisierung zukommt, wird +noch zu errtern sein. Nicht weniger evident ist indes, da es nur +einen Ausschnitt aus jenem breiten Spektrum von Formierungs- und +Kontrollmechanismen erfat, wie es lange vor Foucault eindrucksvoll +von Kant skizziert worden ist. In seiner Vorlesung ber Pdagogik +(1803), die Foucault bei seiner Arbeit an der bersetzung der +'Anthropologie in pragmatischer Hinsicht' sicher nicht entgangen sein +wird21, schrnkt Kant die Disziplin auf die Rolle eines blo negativen +Fundaments ein: Fundament, weil die Disziplin oder Zucht die Tierheit +in die Menschheit umwandle und verhte, da die Individuen durch ihre +animalischen Antriebe von ihrer menschlichen Bestimmung abgelenkt +wrden; nur negativ, weil die Disziplin blo Fehler verhindere, ohne +selbst eigene positive Ziele geben zu knnen. Neben dieser 'blo +physischen' Erziehung durch Disziplinierung kennt Kant die praktische +Erziehung, die sich ihm als ein Bndel komplexer, neben dem ueren +Verhalten zunehmend auch das Innere erfassender Strategien darstellt: +als Kultivierung, die die ntigen Fertigkeiten und Geschicklichkeiten +vermittelt; als Zivilisierung, die die fr den gesellschaftlichen +Verkehr unentbehrlichen Formen der Affektmodellierung und +Triebkontrolle bereitstellt; und als Moralisierung, die auf die +Unterwerfung der je subjektiven Zwecke und Motive unter +gesellschaftliche, d.h. universalistische Prinzipien zielt. "Der +Mensch soll nicht blo zu allerlei Zwecken geschickt sein, sondern +auch die Gesinnung bekommen, da er nur lauter gute Zwecke erwhle. +Gute Zwecke sind diejenigen, die notwendigerweise von jedermann +gebilligt werden; und die auch zu gleicher Zeit jedermanns Zwecke sein +knnen" (Kant 1968, XII, 707). + + +anschlieen: einmal, weil die Ethik, auf der sie beruht, die +Sozialisation in eine abstrakte Gesellschaft zum Telos hat (Adorno, GS +6, 211ff.), dann aber auch, weil der Disziplinbegriff mit seiner +Beschrnkung auf rein negative Funktionen zu eng ist und Kants eigenen +Darlegungen nicht entspricht: Wenn es nicht nur eine Disziplin des +Krpers und der Affekte, sondern auch eine Disziplin der reinen +Vernunft gibt, so sind zumindest die Grenzen zwischen Disziplinierung +und Kultivierung (im Sinne einer Ausbildung kognitiver Fhigkeiten) +weit durchlssiger, als Kant wahrhaben will22. Gegenber Foucaults +extensivem Verstndnis von Disziplin indes, das auch noch +interaktionsbezogene und normative Mechanismen umfat, ist Kants +Modell vorzuziehen, weil es die verschiedenen Dimensionen des modernen +Formierungsprozesses klarer differenziert: die nichtdiskursiven +Praktiken fr die Schaffung gehorsamer und gelehriger Krper; die +Formung eines methodisch-disziplinierten wissenschaftlichen Verstandes +durch Schulung/Unterweisung, welche freilich auf den nichtdiskursiven +Praktiken des Drills und der Bestrafung aufbaut und sich nicht selten +darin erschpft, wie ein Blick in die Geschichte der 'Schwarzen +Pdagogik' lehrt (Rutschky 1977; Stone 1979, 115ff.; de Mause 1980, 66 +ff.); die mit dem Begriff der Zivilisierung umschriebene Sublimierung +von Interaktionsanforderungen, die fr das Leben bei Hofe oder in der +guten Gesellschaft erforderlich war; und jene singulre, untrennbar +mit dem okzidentalen Brgertum verbundene Strategie der Moralisierung, +die das Prinzip des 'affektiven Individualismus' (Stone) mit der +Implantation eines 'vorhergehenden Gewissens' verkoppelte (Kittsteiner +1984). Erst diese letztere Strategie vollendet die berwindung des +Naturzustands, weil allein sie in jene inneren Reservate vorzudringen +vermag, die sowohl der Disziplinierung als auch der Kultivierung und +Zivilisierung als blo uerlichen Konditionierungsweisen unzugnglich +bleiben. Kant hat daher in der Moralisierung das hchste und zugleich +am schwersten erreichbare Ziel der Erziehung gesehen: + + +Artigkeit und Anstndigkeit. Aber, uns fr schon moralisiert zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Denn die Idee der Moralitt gehrt +noch zur Kultur; der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenhnliche in der Ehrliebe und der ueren Anstndigkeit +hinausluft, macht blo die Zivilisierung aus. So lange aber Staaten alle ihre Krfte auf ihre eiteln und gewaltsamen +Erweiterungsabsichten verwenden, und so die langsame Bemhung der inneren Bildung der Denkungsart ihrer Brger unaufhrlich +hemmen, ihnen selbst auch alle Untersttzung in dieser Absicht entziehen, ist nichts von dieser Art zu erwarten; weil dazu eine lange +innere Bearbeitung des gemeinen Wesens zur Bildung seiner Brger erfordert wird" (Kant 1968, XI, 44f.). + + +pauschalisierender Rede von Normierung/Normalisierung besteht darin, +da es eine ganze Reihe von Forschungen zu integrieren vermag, von +denen Foucault nur am Rande oder gar nicht Notiz nimmt, obwohl sie +sein Thema unmittelbar berhren. Auf dem Gebiet der Disziplinierung +ist hier etwa an die verschiedenen religs-ethisch motivierten Formen +der Selbstdisziplin zu denken, wie sie in der frhen Neuzeit vom +Neostoizismus oder vom Puritanismus propagiert wurden +(Treiber/Steinert 1980, 90, 104ff.; Leites 1988); auf dem Gebiet der +Kultivierung an die Bedeutung der Alphabetisierung und +Literarisierung, die seit dem 16. Jh. einem stets wachsenden Teil der +Bevlkerung Zugang zu einem der wichtigsten Machtmittel verschafften, +gleichzeitig aber auch die Basis staatlicher Herrschaft erweiterten +(Schenda 1981; Spittler 1980); auf dem Gebiet der Zivilisierung +natrlich an die Arbeiten von Norbert Elias ber die +Verhaltensnderungen in den weltlichen Oberschichten des Abendlands, +die zum Vorbild fr zahlreiche weitere Untersuchungen geworden sind +(Gleichmann 1979, 1984; Krumrey 1984; Schrter 1985). Der Proze der +Moralisierung endlich ist zu wissenschaftlicher Prominenz +hauptschlich im Zusammenhang mit den Diskussionen ber die +protestantische Ethik gelangt, doch war er damit mitnichten zuende: so +hat z.B. Wolfgang Dreen die berlegenheit der franzsischen +Revolutionsarmeen gegenber dem Heer friderizianischer Prgung mit der +greren taktischen Beweglichkeit erklrt, welche das +Erziehungsprinzip der moralischen Selbstregulierung gegenber einer +blo mechanischen Disziplin gewhrt (Dreen 1982, 266f.); ein anderes +Beispiel ist der auffllige Rckgang der Verbrechensrate in der Zeit +zwischen ca. 1840 und 1930, der von manchen Autoren mit dem Hinweis +auf jene eigentmliche Intensivierung des Moralbewutseins erklrt +wird, welche sich an so unterschiedlichen Phnomenen wie der aus der +evangelikalen Erweckungsbewegung hervorgegangenen Stadtmissionierung, +den philanthropisch inspirierten Reformen des Sozial- und +Erziehungswesens und der Ausbreitung des Temperenzlertums ablesen +lasse23. Ob diese Hypothese stimmt oder nicht - sie steht immerhin in +Widerspruch zu der von Durkheim anhand der kontrr verlaufenden +Selbstmordkurve entwickelten Anomiethese -, ist eine Frage, die nur +empirisch entschieden werden kann. Da sie berhaupt aufgestellt und +mit plausiblen Argumenten untermauert werden kann, ist allerdings ein +Indiz fr die Notwendigkeit, den kategorialen Rahmen nicht dadurch von +vornherein einzuschrnken, da man Moralisierung auf eine Variante der +Disziplinierung reduziert24. + + +mu, sieht nicht gnstig aus. Die Machttheorie, die das Konzept der +Disziplinargesellschaft tragen soll, vermag diese Aufgabe nicht zu +erfllen. Sie ist reduktionistisch und simplifizierend, sie produziert +Pseudoevidenzen und fhrt dazu, die Bewegung des Gedankens vorschnell +zu sistieren. Sie prsentiert sich als objektive Genealogie und ist +doch in Wahrheit reiner Subjektivismus, der alles, was ist, auf Wille +und Handlung zurckfhrt. Sie verspricht eine neue, +nichttotalisierende Geschichte und totalisiert doch selbst, nur sehr +viel schlechter als etwa Marx oder Hegel, indem sie alle Differenzen +in den allgemeinen Nebel der 'Macht' auflst. Auf dieser Grundlage ist +das Projekt einer Theorie der Disziplinargesellschaft undurchfhrbar. + + + + + + + + + + +in diese Richtung. Habermas, der sich gleichwohl von Foucaults +Analysen der kapillarischen Wirkungen der Disziplin fasziniert zeigt, +ist vom "Primat der Lebenswelt" gegenber den vermachteten und +disziplinr organisierten Subsystemen der modernen Gesellschaft zu +tief berzeugt, als da er mit der Diagnose eines 'Kerker-Kontinuums' +sich anfreunden knnte. Eine derartige Charakterisierung erscheint ihm +als unhaltbar, weil sie die Zweideutigkeit des +Modernisierungsprozesses, das Nebeneinander von pathologischen und +emanzipatorischen Zgen, unterschlage. hnlich sieht es Honneth: das +von Foucault entworfene "Zwangsmodell gesellschaftlicher Ordnung", das +im Ergebnis auf verblffende Weise mit Adornos Vision der verwalteten +Welt bereinstimme, sei unbrauchbar, weil in ihm die "normativen und +kulturellen Orientierungen der vergesellschafteten Subjekte" keinen +Anteil an der sozialen Integration htten25. + + +Disziplinargesellschaft so aktuell macht. Wie realittsnah Foucaults +Untersuchungen trotz ihrer theoretischen Schwchen sind, zeigt sich +nirgends deutlicher als in dem Umstand, da etwa Habermas in seinen +empirisch gerichteten Gegenwartsdiagnosen dem Konzept der +Disziplinargesellschaft erheblich nher kommt, als es die theoretisch- +programmatische Distanzierung gestattet. Nicht anders als Foucault +konstatiert auch er eine "Ausdehnung und Verdichtung des monetr- +brokratischen Komplexes", die zu einer Entmchtigung des +kommunikativen Handelns fhre; nicht anders als der Theoretiker der +Macht-Wissen-Komplexe registriert auch er das "hypertrophe Wachstum +der mediengesteuerten Subsysteme, welches ein bergreifen +administrativer und monetrer Steuerungsmechanismen auf die Lebenswelt +zur Folge hat" (Habermas 1981, 516, 460, 489). Gewi - Habermas geht +nicht so weit, auch im Individuum ein bloes Korrelat von +Machttechniken zu sehen. Da die gesellschaftliche Ordnung der Moderne +aber auf weite Strecken von nichtnormativen Praktiken regiert wird, +rumt auch er ein: "Indem sich die Subsysteme Wirtschaft und Staat +ber die Medien Geld und Macht aus einem in den Horizont der +Lebenswelt eingelassenen Institutionensystem ausdifferenzieren, +entstehen formal organisierte Handlungsbereiche, die nicht mehr ber +den Mechanismus der Verstndigung integriert werden, die sich von +lebensweltlichen Kontexten abstoen und zu einer Art normfreier +Sozialitt gerinnen" (ebda; 455). Als deskriptiver Begriff ist das +Konzept der Disziplinargesellschaft also offenbar doch nicht vllig +unbrauchbar; und es gewinnt noch an berzeugungskraft, wenn man sieht, +wie bla und leer der von Habermas als Konterkategorie eingefhrte +Begriff der Lebenswelt letztlich bleibt. + + +ist zu negieren, soweit es sich zur Totalitt aufspreizt und sich als +Aussage ber das Ganze der modernen Gesellschaft prsentiert, wie dies +in der Redeweise vom "Kerker-Gewebe der Gesellschaft" oder vom +"verallgemeinerte(n) Kerkersystem, das in die Tiefe des +Gesellschaftskrpers hineinwirkt" (1976, 392, 390), geschieht. Die +Gesellschaft ist kein Gefngnis und die Vernunft nicht die Folter. +Festzuhalten aber ist das Konzept, insofern es das Faktum registriert, +da die Disziplin den brigen von Kant herausgearbeiteten +Formierungsmechanismen eindeutig den Rang abgelaufen hat. So entpuppt +sich beispielsweise ein erheblicher Teil der von Elias unter dem Titel +'Zivilisierung' beschriebenen Konditionierungsvorgnge (etwa des +Sexualverhaltens oder der Reinlichkeitsdressur) bei nherem Hinsehen +als eine Variante der Disziplinierung, wohingegen die typischen +Manifestationen von Zivilisation (im Sinne z.B. des Raffinements der +Konversation, der Steigerung der Distinktionsfhigkeit oder einfach +des schonenden und taktvollen Umgangs miteinander) ihren sozialen +Trger - die hfische Aristokratie und das noch halb aristokratische +Brgertum des 18. und 19. Jhs. - nicht berlebt haben. Da hfische +Interaktionsformen ohne wesentlichen Kontinuittsbruch von der +industriellen Gesellschaft bernommen und zu konstitutiven Merkmalen +bestimmter Nationalcharaktere erhoben worden seien - diese seine +Zentralthese belegt Elias nicht, und sie leuchtet auch nicht ein vor +dem Hintergrund einer Konfiguration, die nicht mehr wie die hfische +Gesellschaft von einer konomie der Verschwendung geprgt ist, sondern +von einer 'konomie der Zeit' (Marx), die die Zivilisationskurve des +Essens auf das Niveau von fast food und die der Erotik auf dasjenige +von quickies herabgedrckt hat. Wie weiter oben gezeigt, gewinnen denn +auch seit einiger Zeit Theorien an Plausibilitt, die die Epoche in +geradem Gegensatz zu Elias im Zeichen einer skularen Entzivilisierung +sehen. + + +ab. Nicht da moralische Codierungen an Prominenz verlren oder keinen +Einflu auf Interaktionen und Entscheidungen mehr ausbten. Ganz im +Gegenteil. Der moralische Protest beispielweise (um nur eine der +vielfltigen Erscheinungsformen des Moralischen herauszugreifen) +verfgt heute ber ein so ausgedehntes Themenreservoir und ein so +breites Rekrutierungsfeld, da seine Regenerationsfhigkeit auf +lngere Zeit gesichert ist. Es gibt immer wieder eine neue Diktatur, +auf die sich pltzlich die Aufmerksamkeit richtet, immer wieder eine +neue Dummheit irgendwelcher Exekutiven, an der sich die Flamme der +Emprung entznden kann. Im Zeitalter des Satellitenfunks wchst die +Zahl der Ungerechtigkeiten mit den im Einsatz befindlichen +Nachrichtenjgern und fhrt dem Dauerprotest immer neue Motive zu. + + +auch der brgerlichen Pdagogik des 19. Jhs. vorschwebte, mssen diese +Erscheinungsformen strikt getrennt werden. Die brgerlich- +protestantische Moralisierung zielte auf Formung des Ungeformten, auf +Domestizierung jenes in den unauslotbaren Tiefen der Seele noch +fortwirkenden Naturzustandes, der auf staatlich-juridischer Ebene mit +dem Abschlu des Gesellschaftsvertrages berwunden worden war. Ihr +Erziehungsmodell war jener von Riesman treffend beschriebene +innengeleitete Charakter, der sich an die Signale eines frhzeitig +internalisierten seelischen Kreiselkompasses gebunden fhlte und +dergestalt individuelle Autonomie mit gesellschaftlicher, +prinzipiengesteuerter Orientierung verband. + + +die Grundlage entzogen. Schon Freud registrierte, da nur eine +Minderheit ber ein steuerndes und lenkendes Gewissen verfgte, +whrend die Mehrzahl davon nur ein bescheidenes Ma mitbekommen habe +(Freud I; 500); hnlicher Ansicht war Max Weber, fr den das +'stahlharte Gehuse' des Kapitalismus lngst ohne die Verinnerlichung +einer spezifischen Berufsethik funktionierte, oder Georg Simmel, fr +den die Moderne eine Individualisierung wie noch zu Rembrandts oder +Shakespeares Zeiten ausschlo; die heutigen Individuen, meinte Simmel, +seien "nichts als die Oszillationen in einer heraklitischen Welt, zu +deren Totalitt sie die Zugehrigkeit nur um den Preis gewinnen, +jegliche Substanz und Lebenseinheit dem bloen Jetzt des absoluten +Werdens preiszugeben" (Simmel 1919, 138). Nicht anders sahen es spter +so gegenstzliche Autoren wie Adorno, von dessen Auffassung noch +ausfhrlicher die Rede sein wird, und Arnold Gehlen, fr den die +Moderne einerseits durch 'Schnittpunktexistenzen', andererseits durch +eine ungemeine Ausdehnung der Willkr bestimmt war. Gerade weil die +Individuen in einer von Automatismen und Schematismen geprgten Welt +nichts Wirkliches mehr verndern knnten, so Gehlens These, strzten +sie sich in einen ungehemmten Subjektivismus, eine +'Moralhypertrophie', die ebenso exaltiert wie folgenlos sei26. Da +eine derart zum Mittel des persnlichen Ausdrucks gewordene Moral noch +als 'Schrittmacher der sozialen Evolution' (Habermas) fungieren +knnte, erscheint unwahrscheinlich, was freilich politische und +soziale Folgen des expressiven Moralismus keineswegs ausschliet. Im +Hinblick auf die Gesamtgesellschaft jedenfalls drfte die Vermutung +Luhmanns realistischer sein, da "die Dominanz funktionaler +Differenzierung, wenn und soweit sie sich als Formprinzip der +Gesellschaft durchsetzt, die Moral evolutionr abhngt und ideologisch +wie motivational disprivilegiert"27. Das Ende der Moral ist damit +nicht erreicht. Wohl aber jener Moralisierung, von der noch Kant +trumte. + + +aus, die 'dunkle Kehrseite' der Moralisierung und Zivilisierung - die +Disziplin. Zu den klassischen totalen Institutionen - Kloster und +Kaserne - sind seit dem 19. Jh. zahllose andere hinzugekommen: +Institutionen der aufbewahrenden Frsorge wie Blinden- und +Altersheime, Waisenhuser und Armenasyle; der isolierenden Frsorge +wie Krankenhuser und Psychiatrien; der Einschlieung und Absonderung +wie Zuchthuser, Gefangenen-, Konzentrations- und Arbeitslager. Durch +die Vermehrung und Expansion dieser Disziplinaranlagen verwandelt sich +die Gesellschaft nicht in ein Kerker-Kontinuum. Wie Goffman zu Recht +bemerkt, sind totale Institutionen weder mit der Arbeit-Lohn-Struktur +noch mit der familialen Gliederung, noch, wie man hinzufgen kann, mit +der auf Konkurrenz gegrndeten Organisation des politischen Systems +vereinbar (Goffman 1972, 22ff.). Unverkennbar ist jedoch, da +disziplinre Mechanismen auch in den offenen, durch freie +Mitgliedschaft gekennzeichneten Institutionen eine dominierende Rolle +spielen. Disziplinr organisiert, sogar mit einem eigenen +Disziplinarrecht ausgestattet, ist der gesamte Staatsapparat mit +seinem stehenden und seinem sitzenden Heer. Disziplinr organisiert +sind die privaten gewerblichen Betriebe, wovon schon ein einziger +Blick in eine Fabrikhalle oder ein Groraumbro zeugt +(Treiber/Steinert 1980; Fritz 1982) - ganz zu schweigen von den rasch +expandierenden mikroelektronischen Personalinformationssystemen, die +Zugang, Leistung und Kommunikation innerhalb der Betriebe einer +lckenlosen Kontrolle unterwerfen und, indem sie das Auge des Meisters +durch das zwingende Wissen des Computers ersetzen, eine neue Stufe in +der Evolution der Disziplin ankndigen: die Automatisierung der +Disziplin (Ortmann 1984, 107ff.; Poster 1984, 115). Der organisierte +Massensport, vom Volkslauf bis zum Werksfuball, ist eine einzige +Disziplinaranlage (Rigauer 1982; Eichberg 1986, 185ff.); und ohne +Disziplin geht im modernen Massentourismus nichts. Auch in der +politischen Demokratie dominieren brokratische Apparate und +hierarchisch strukturierte Entscheidungsprozesse. Selbst die +Opposition gegen diese Apparate und die von ihnen erzwungene Disziplin +kommt nicht umhin, ihre Anhnger zu reglementieren und dabei ihr +charismatisches Kapital aufzuzehren. Kein Zweifel: in einer +Gesellschaft, die den weitaus grten Teil ihrer Funktionen ber +Organisationen abwickelt, ist Disziplin - die pauschale Anerkennung +und automatische Befolgung der Mitgliedschaftsregeln - zur Conditio +sine qua non geworden. Mit seiner berhmten Metapher vom 'stahlharten +Gehuse' hat Max Weber diese Entwicklung vor mehr als achtzig Jahren +antizipiert. + + +oder 'strategischen Spielen' (Foucault) zu tun, sondern ist eine Folge +von Systemprozessen, die sich jeder interaktionistischen Deutung +entziehen. Die moderne Gesellschaft ist das Ergebnis einer +weltgeschichtlich einzigartigen Desintegration, in deren Verlauf sich +der in den vormodernen Kulturen politisch oder religis eingekapselte +Modus der funktionalen Differenzierung verselbstndigte und zur +Evolution neuer, hchst unwahrscheinlicher und riskanter Synthesen +trieb. Anstelle der autarken Lokalgesellschaften des Mittelalters trat +ein interdependentes Verflechtungssystem, das den gesellschaftlichen +Stoffwechsel mit der Natur von der Vermittlung durch die Zirkulation +von Waren abhngig machte; anstelle der direkten, familial, politisch- +herrschaftlich und religis begrndeten Bindungen eine indirekte +Synthese, in der die einzelnen ihre Verklammerung in das bergreifende +Verflechtungsnetz erst auf dem Markt erfuhren. + + +berzeugende Weise dargestellt. Er hat gezeigt, wie die Verdichtung +von funktionaler Differenzierung und Marktvergesellschaftung dazu +fhrte, da sich das Wertgesetz als Prinzip der Systemintegration +durchsetzte, wie dieses Wertgesetz die Homogenisierung der +Einzelarbeiten durch Messung am Tauschwert, d.h. durch Relationierung +der in Zeitquanta ausgedrckten abstrakten Arbeit, bewerkstelligte; +wie diese Homogenisierung mit zunehmender Ausdehnung der Lohnarbeit +und fortschreitender Vergesellschaftung der Produktion mehr und mehr +in den Produktionsproze selbst verlagert wurde, indem die Funktionen +der lebendigen und der toten Arbeit (der Maschinerie) nach +einheitlichen Zeitmastben koordiniert bzw., um einen Ausdruck Sohn- +Rethels aufzugreifen, 'kommensuriert' wurden; und wie dadurch die +abstrakte Zeit aus einem nur ideell gesetzten Mastab zum +beherrschenden Organisationsprinzip der konomie wird. Damit ist nicht +gesagt, da die zeitkonomische Durchdringung sich in smtlichen +Produktionszweigen linear und simultan durchsetzt. Wie die kritische +Modifizierung der Thesen Sohn-Rethels durch die neueren Forschungen +des 'Instituts fr Sozialforschung' gezeigt hat, vollzieht sich die +zeitkonomische Rationalisierung in heterogenen Verlaufsformen, die +durch die variierenden Marktverhltnisse und durch branchenspezifische +Besonderheiten geprgt sind28. Der skulare Trend bleibt davon jedoch +unberhrt. Kapitalisierung bedeutet Objektivierung und Erweiterung der +zirkulationsbegrndeten Formen von Wissen, Kommunikation und +Organisation; dagegen Formalisierung und Entwertung aller +'naturwchsig'-spontanen Kompetenzen, Denk- und Erfahrungsmuster. +"konomie der Zeit, darein lst sich schlielich alle konomie auf" +(Marx 1974, 89). + + +Foucault beschriebenen Verallgemeinerung der Disziplin zu suchen. +Natrlich beginnt die Geschichte der Disziplin nicht erst mit der +brgerlichen Gesellschaft und der fr sie typischen 'Herauslsung' der +konomie; und natrlich spielen auerkonomische, insonderheit +politische Mechanismen wie die Konzentration der Verwaltungs- und +Kriegsbetriebsmittel im absolutistischen Staat eine nicht +wegzudenkende Rolle fr den bergang von der bloen 'Virtuosen-' zur +'Sozialdisziplinierung' (Treiber/Steinert 1980, 89; Dreyfus/Rabinow +1987, 165; Bauer/Matis 1988, 315ff.). Whrend aber diese frhen Formen +der Disziplinierung des subjektiven Antriebs und der Gewalt nicht +entbehren knnen - die Menschen, schreibt Friedrich II. von Preuen, +"bewegen sich, wenn man sie antreibt, und stehen still, wenn man nur +einen Augenblick aufhrt, sie vorwrts zu drngen"(Hubatsch 1973, 234) +- kommt es zu einer Objektivierung und damit zu einer dauerhaften +Verallgemeinerung der Disziplin erst mit der Totalisierung der +abstrakten Arbeit und dem damit verbundenen Aufstieg der abstrakt- +linearen Zeit zur 'Systemzeit'29. Zeitkonomische Imperative fhren zu +einer Umstrukturierung des konstanten und einer tiefgreifenden +Vernderung des variablen Kapitals, welche vor allem die Zurichtung +der motorischen und sensomotorischen Bewegungsablufe und die +Zurckdrngung des 'Krper-Wissens' betrifft (Bhle 1989). +Zeitsparende Mechanismen sedimentieren sich im Aufbau der modernen +Groorganisationen und stellen auch hier das Verhalten unter das +Diktat der Zeitdisziplin. Selbst scheinbar so eigenstndige Strukturen +wie die Prinzipien der vertikalen Kommunikation, der Rollentrennung +und der Entscheidung nach universalistischen Kriterien lassen sich +nach Luhmann unter dem Gesichtspunkt interpretieren, da sie +langwierige interne und externe Kommunikationsprozesse abkrzen sollen +(Luhmann 1983, 15O). Es drfte nicht schwerfallen, auch im sogenannten +Freizeitbereich Formen zu identifizieren, die der ubiquitren +Temporalisierung Rechnung tragen und ihr adquate Rezeptions- und +Verhaltensstile etablieren (Film, Autokultur). Da die +'Disziplinarzeit' auf die pdagogische Praxis bergreift und hier zu +grundlegenden Umwlzungen fhrt, indem sie z.B. die Ausbildungs- von +der Berufszeit lst, hat Foucault gesehen, allerdings sogleich in den +Rahmen der Machttheorie gepret: "Die Macht tritt der Zeit sehr nahe +und sichert sich ihre Kontrolle und ihre Ausnutzung" (1976, 206). In +Wirklichkeit verhlt es sich genau umgekehrt: die Zeit wird nicht zu +einer Funktion der Macht, sondern die zur Systemzeit gewordene Zeit +produziert asymmetrische Handlungs- und Befehlsketten und generiert +damit Machtrelationen, die das Verhalten der einzelnen determinieren. + + + + + + + + + + +Einwand erhoben, sie stelle zu einseitig die Aspekte der +Herrschaftssicherung und Verdinglichung heraus und verfehle damit die +bei Foucault doch auch angelegte Einsicht, da "jene Vorgnge eines +organisierten Ausbaus der Sozialkontrolle stets in einem +lebensweltlichen Horizont von praktischen Konflikten um die +Legitimitt sozialer Machtansprche verwirklicht sind" (Honneth 1989, +238). Diese Kritik ist nun ihrerseits von Einseitigkeiten nicht frei, +geht sie doch stillschweigend darber hinweg, da ich von +institutionalisierter Sozialkontrolle allein im Hinblick auf +organisierte Sozialsysteme gesprochen und weder die Mglichkeit von +Widerstand noch von moralischen Orientierungen bestritten habe. +Gleichwohl trifft sie einen Punkt, der in meinen Ausfhrungen in der +Tat zu kurz kam. Auch organisierte Sozialsysteme lassen sich heute +zunehmend weniger nur aus der Perspektive des 'Kontroll-Paradigmas' +fassen, also jenes Interpretationsrasters, das vor allem die +Reglementierung des Erlebens und Handelns von Personen durch +Organisationen betont und Subjektivitt auf eine bloe +Ausfhrungsinstanz des Sozialsystems reduziert (Schimank 1986, 73). +Dieses Paradagma ist zwar nicht falsch, mu jedoch durch eine andere +Sichtweise ergnzt werden, derzufolge Subjektivitt nicht blo auf den +Nachvollzug immer schon konstituierter sozialer Ordnungen beschrnkt +ist, sondern diese, wenn schon nicht konstituiert, so doch +mitkonstituiert (ebd. 75). Da fr Foucault erst beide Perspektiven +zusammen ein vollstndiges Bild ergeben, wurde am Ende des ersten +Abschnittes gezeigt; Foucault selbst hat es noch einmal in der +Einleitung zum zweiten Band der Histoire de la sexualit +unterstrichen, in der er darauf verweist, "da jede 'Moral' im weiten +Sinn die beiden angegebenen Aspekte enthlt: den der Verhaltenscodes +und den der Subjektivierungsformen" (1986, 41). Honneth hat also +recht, auf eine angemessene Behandlung der letzteren zu dringen. Im +Gegensatz zu der weiteren von ihm vorgeschlagenen Interpretation, die +hierin eine Strke der handlungs- gegenber den systemtheoretischen +Komponenten von Foucaults Analysen sieht, mchte ich allerdings die +These vertreten, da die Bercksichtigung der Subjektivitt in +organisierten Sozialsystemen nur zu einer Flexibilisierung, nicht aber +zu einer Sprengung des Begriffs der Disziplinargesellschaft fhrt. + + +Komplexitt nicht mehr den gleichen Erklrungswert beanspruchen kann +wie zu Beginn des Jahrhunderts, als Weber seine Brokratietheorie und +Taylor seine Methoden der wissenschaftlichen Arbeitsgestaltung und +Betriebsfhrung entwickelte, wird heute durch zahlreiche +Untersuchungen besttigt, die einen Wandel der Institutionen zu +weniger hierarchischen, mehr informalen und kollegialen Strukturen +dokumentieren. Dies gilt etwa fr die Organisationssoziologie, die +seit lngerem das Zurcktreten der verfahrensorientiert-unpersnlichen +Strukturen hinter dienstleistungsorientiert-persnlichen Formen +registriert und Human-Relations-Gesichtspunkte in den Vordergrund +stellt (Schluchter 1972, 140ff.; Hage 1980). Es gilt aber auch fr die +Industriesoziologie, die in wichtigen Bereichen eine Abkehr von den +bislang dominierenden tayloristischen Formen der Zeitkonomie +festgestellt hat (Kern/Schumann 1984; Bergmann u.a. 1986; Manske 1987; +Malsch 1987; Wuntsch 1988, 331ff.; Brandt 1990, 358ff.). Zwar hat sich +die Ankndigung einer 'Neoindustrialisierung', die eine Zurckdrngung +der Heteronomie von Industriearbeit ermglichen und die +"Voraussetzungen fr kompetentes, selbstbewutes Verhalten im +Arbeitsproze" schaffen sollte (Kern/Schumann 1984, 327; kritisch +hierzu: Schmiede/v. Greiff 1985), als berzogen erwiesen, doch gilt +dies ebenso fr die Annahme einer stetigen Steigerung der direkten +sozialen Kontrolle durch Dequalifizierung der Arbeitskraft einerseits, +Zentralisierung des Produktionswissens beim Management andererseits. +Neuere empirische Untersuchungen legen den Schlu nahe, da die +tayloristischen und fordistischen Strategien der zeitkonomischen +Arbeitszerlegung nur fr bestimmte Sektoren der Massenproduktion +galten, whrend sie etwa in der kleinserigen, komplexen +Maschinenfertigung stets an den hohen Kosten scheiterten, die fr den +Aufbau leistungsfhiger Arbeitsvorbereitungsabteilungen ntig gewesen +wren (Manske 1987, 170); sie zeigen zugleich, da der Taylorismus als +das Mittel zur zentralistischen Kontrolle der Arbeitsausfhrung und +damit der Arbeiter berall dort seine Grenze findet, wo die +Besonderheiten von Materialien und Produkten sowie die Marktlage ein +hohes Ma an betrieblicher Flexibilitt und Reaktionsfhigkeit +erfordern. Die von Sohn-Rethel (1972) und Bravermann (1977) ganz auf +der Linie von Marx und Weber beschriebene langfristige Tendenz einer +fortschreitenden Einschrnkung bzw. Eliminierung der +Dispositionsspielrume wie auch der kognitiven Kompetenz der +Arbeitskrfte htte von hier aus gesehen mit Gegentendenzen zu +rechnen, die anstelle der reinen Subsumtionslogik strker auf +indirekte, 'systemische' Kontrollen setzen (Baethge/Oberbeck 1986, 22; +Manske 1987, 175) und dabei die eindimensionalen, auf +'Fremdbeobachtung' und punktueller Disziplinierung beruhenden +tayloristischen Mechanismen durch neue, die 'Selbstbeobachtung' und +aktive Beteiligung des Personals akzentuierenden Strategien +substituierten (Malsch 1987). Ob sich damit, wie etwa Malsch glaubt, +die Chance einer kommunikativen Rationalisierung erffnet, mag +dahingestellt bleiben. Fest steht jedoch, da das Kontroll-Paradigma +diesen Entwicklungen nur unzureichend Rechnung trgt. "Subjektivitt", +so folgert Uwe Schimank, "ist in formalen Organisationen nicht nur +eine mglichst weitgehend sozialem und technischem Reglement zu +unterwerfende, weil fr die organisatorische Ordnung gefhrliche +Strgre; sondern Subjektivitt ist eine wesentliche +Konstitutionsbedingung organisatorischer Ordnung gerade auch in +hochtechnisierten Produktionsorganisationen" (1986, 86). + + +Abschnitt skizzierten Argumentation erforderlich, stellen sie jedoch +nicht grundstzlich in Frage. Auch wenn die Bedienung der zunehmend +komplexer und stranflliger werdenden Produktionsanlagen heute eine +flexiblere Funktionsvermischung und eine erhhte technisch- +wissenschaftliche Kompetenz des Personals verlangt (Wuntsch 1988, 28, +201); auch wenn die Belegschaften ein ganz neuartiges "Drohpotential +der Datenmanipulation und der Wissenszurckhaltung" erwerben (Malsch +1987, 79), folgt daraus doch nicht, da die systemische Integration an +ihre Grenze stt und eine neue Perspektive erffnet, die es +ermglicht, die organisierten Sozialsysteme "als fragile Gebilde zu +durchschauen, die in ihrer Existenz vom moralischen Konsens aller +Beteiligten abhngig bleiben" (Honneth 1985, 334). Bei der +Subjektivitt, die in organisierten und technisierten Systemen +operiert, handelt es sich zwar um selbstdeterminierte und insofern +zweifellos auch zu moralischen Orientierungen befhigte personale +Systeme, doch ist gerade diese Kompetenz nicht gemeint, wenn von einem +Beitrag zu den Konstitutionsbedingungen die Rede ist. Gefragt sind +nicht die moralischen und expressiven, sondern die kognitiven und +technischen Kompetenzen, mithin jene Fhigkeiten zu formaler +Rationalitt, diskursiver Symbolisierung und streng linearer +Wahrnehmung, wie sie nur das im kantischen Sinne disziplinierte und +kultivierte Individuum besitzt. Gewi geht das Individuum darin nicht +auf. Es verfgt, auch und gerade im Rahmen informatisierter +Produktionstechnologien, ber die Fhigkeit, die durch die jeweilige +Technik gesetzten Grenzen sinnhaften Operierens zu berschreiten, es +akkumuliert ein Erfahrungswissen, das durch formalisiertes und +standardisiertes Planungswissen nie vollstndig ersetzt werden kann. +Dennoch handelt es sich um eine Erfahrung hchst spezifischer Art: +nicht die spontane, 'naturwchsige' Erfahrung der konkreten Arbeit, +die eine Wechselbeziehung zwischen dem Arbeitenden, dem Werkzeug und +dem je besonderen Material unterstellt, sondern die domestizierte, +disziplinierte Erfahrung innerhalb eines vorstrukturierten technischen +'Ereignishorizonts', in dem sich die Aktivitt des Subjekts weitgehend +auf die Selektion und Deutung der Zeichen beschrnkt, die von den +Informationssystemen in berflle geboten werden (Hartmann 1990, 42). +Erfahrung in diesem Kontext ist immer wissenschaftliche Erfahrung, +Produktion immer: Objektivation von Wissenschaft. Die Vernderung +besteht allenfalls darin, da sich nunmehr nicht blo die +Wissenschaftler und Ingenieure, sondern Teile der Arbeiterschaft +selbst in wissenschaftlicher Weise auf die Erfahrung bzw. die +Produktion beziehen und damit gleichsam von der passiven auf die +aktive Seite des Abstraktifizierungsprozesses rcken. + + +Unzulnglichkeiten seiner Machttheorie, auch nicht sehen knnen. Er +hat aber immerhin etwas davon geahnt, wenn er von der "Ersetzung eines +juridischen und negativen Rasters durch ein technisches und +strategisches" spricht (1978, 105), wenn er auf neue Machtmechanismen +verweist, die nicht mehr mit dem Recht, sondern mit der Technik +arbeiten, wenn er betont, da die Macht nicht mehr nur 'von oben', +sondern auch 'von unten', d.h. von den Subjekten selbst kommt (1977, +110, 115). Wenn die direkte Kontrolle la Taylor berflssig wird, so +nicht, weil das System durch zunehmend autonomere, ihre Qualifikation +und ihre Intelligenz wiedergewinnende Subjekte in die Defensive +gedrngt wrde. Sondern genau umgekehrt: weil es, flexibler und +gleichsam dialektischer geworden, mit den Beitrgen der Subjekte +selbst rechnen kann, die, vom wissenschaftlichen Code geprgt, die +permanente Optimierung des Systems zu ihre eigenen Sache gemacht +haben30. + + +Entwicklung sein, die Foucault unbeachtet gelassen hat, auf die ich +jedoch zum Schlu wenigstens hinweisen mchte, weil eine Theorie der +Disziplinargesellschaft sie nicht ignorieren kann: die partielle +Entdisziplinierung, von der die fortgeschrittenen +Industriegesellschaften seit einiger Zeit heimgesucht werden. Die +allgemeine Erhhung des Qualifikationsniveaus im Gefolge der +'Bildungsrevolution' (Parsons) hat zu einer Entwertung der unteren +Bildungsabschlsse gefhrt, die die Haupt- und Sonderschulabsolventen +in eine hnliche Lage geraten lt wie Analphabeten. Die Hauptschule, +so hat Ulrich Beck es formuliert (1986, 246), verwandelt sich mehr und +mehr in einen 'Aufbewahrungsort fr arbeitslose Jugendliche', dessen +Funktionsbestimmung sich in Richtung Beschftigungstherapie +verschiebt. Die Folge ist nicht nur eine anomische Reaktion der +betroffenen Jugendlichen, die sich etwa am Phnomen des ansteigenden +Vandalismus ablesen lt, sondern eine tiefgreifende Entwertung der +Autoritt der Schule und eine Erosion der von ihr vermittelten +Disziplin - vor allem in Grostdten mit anhaltend hoher +Jugendarbeitslosigkeit und hohem Anteil von Angehrigen +diskriminierter Minderheiten. Whrend sich die Pdagogik an Gymnasien +eher mit Problemen wie Ehrgeiz, Schulangst, bertriebene Anpassung und +Kontaktschwierigkeiten konfrontiert sieht, werden an Hauptschulen in +zunehmendem Mae Verhaltensaufflligkeiten wie Unkonzentriertheit, +Ungenauigkeit, Interessenmangel, verbale Aggression und Ungehorsam +gegen den Lehrer registriert (Bach 1987, 58 f.). Auch an den +Grundschulen mehren sich inzwischen die Unterrichtsstrungen in Form +von bermotorik, diffuser Aggression, ungerichtetem Agieren und +didaktisch-methodischer Unansprechbarkeit, so da das Bildungsangebot +bei einem wachsenden Teil der Schler ins Leere stt (Ziehe 1983; +Cloer 1982; ders. 1987; Winkel 1988). Wenn die Zeichen nicht trgen, +so scheint es sowohl der sekundren als offenbar bereits der primren +Sozialisation in Teilen der Gesellschaft zusehends weniger zu +gelingen, jene innere Disziplin zu vermitteln, die nicht blo fr das +Fortkommen, sondern schon fr das pure berleben in einer +Disziplinargesellschaft unerllich ist. Welches immer die Ursachen +sein mgen - Wohnverhltnisse, Arbeitslosigkeit, damit +zusammenhngende defizitre familiale Kommunikation, nicht zuletzt +auch eine durch Fernsehkonsum vernderte Organisationsform der Sinne - +fest steht, da man heute nicht mehr schlichtweg von einer +Verallgemeinerung der Disziplin, sondern allenfalls von einer +partiellen Erweiterung sprechen kann, bei der ganze Sektoren der +Gesellschaft als disziplinre Brachen ausgespart bleiben. Je weiter +aber sich diese Brachen ausdehnen, desto dringlicher wird die Frage, +ob die von Foucault beschriebene Modernisierung und Humanisierung der +Disziplin, ihre Abkehr von einer bloen 'Gewaltrationalitt' (Dauk +1989, 131), nicht der Anfang eines Prozesses sein knnte, in dessen +Verlauf die Disziplinargesellschaft ihre eigenen Voraussetzungen +zerstrt. Allein mit den von Foucault bereitgestellten Kategorien wird +diese Frage nicht zu beantworten sein. + + + + + + + + + + +der Auseinandersetzung mit Elias und Foucault deutlich, erfassen +wichtige Aspekte der modernen Gesellschaft. Fr eine Gesamtdiagnose +indes ist ihr Instrumentarium zu grob, ihr begrifflicher Zuschnitt zu +eng. Es ist deshalb an der Zeit, den Fokus zu erweitern und jene +beiden Theorien in den Blick zu nehmen, von denen wir uns in der +Kritik an Elias und Foucault vielfach leiten lieen: die Kritische +Theorie und die Systemtheorie. + + +geschrieben worden: ber die unterschiedliche Auffassung von Handeln +und Kommunikation, von Wahrheit und Rationalitt. Nur selten aber, und +dann gewhnlich am Rande, hat die Debatte das eigentliche Thema +probandum berhrt, das zwischen beiden Theorien zur Verhandlung steht: +die moderne Gesellschaft und ihre Entwicklungstendenzen. Dabei ist +kein Feld von so zentraler Bedeutung wie dieses - stimmen doch beide +Theorien darin berein, da die Zukunft der Soziologie wesentlich +davon abhngt, ob es ihr gelingt, einen Begriff ihres Gegenstandes - +der Gesellschaft - zu entwickeln. + + +Berhrungsangst zu sprechen. Vordringlicher ist es, sie zu +durchbrechen, indem man den Gegenstand selbst in den Mittelpunkt der +Errterungen rckt. Dies soll im folgenden in drei Schritten +geschehen. Im ersten Abschnitt werde ich die Aussagen beider Theorien +ber den Aufbau der modernen Gesellschaft vergleichen, die sich im +einen Fall um den Begriff der Totalitt, im anderen Fall um den des +Systems zentrieren. Im zweiten Abschnitt sollen die wichtigsten Thesen +ber die Entwicklungstendenzen der modernen Gesellschaft +herausgestellt werden, wobei ich mich vorrangig auf die Frage +Differenzierung oder Entdifferenzierung konzentrieren werde. Der +letzte Abschnitt behandelt die Mglichkeit wechselseitiger +Lernprozesse beider Theorien im Horizont einer sich anbahnenden +Konvergenz von Kritik und Affirmation. Der Vergleich wird sich auf +Adorno und Luhmann als die beiden Autoren beschrnken, bei denen die +Kritische Theorie und die Systemtheorie in ihrer 'Vollstufe' +entwickelt sind. + + + + + + + + + + +AAF 1. Jeder Anfang ist eine Vorentscheidung. Nach der Systemtheorie +ist mit Differenz zu beginnen, nach dialektischer Auffassung mit +Einheit. Folgte man der ersten Position, so wre man in diesem Fall +schnell fertig. Man wrde zeigen, da fr Luhmann Gesellschaft +Kommunikation ist und in dieser Eigenschaft sowohl das Ganze +verkrpert als auch das Wahre einschliet: die Gesamtheit der +Kommunikationen als Selektion aus der Gesamtheit aller anschlufhigen +- in Luhmanns Terminologie: 'wahren' - Kommunikationen (1990, 533, +618f., 175)31. Auf der anderen Seite tauchte dann sogleich die Formel +vom Ganzen als dem Unwahren sowie Adornos 'Generalverdacht gegen +Kommunikation' auf (Mrchen 1981, 231). "Alles, was heutzutage +Kommunikation heit, ausnahmslos, ist nur der Lrm, der die Stummheit +der Gebannten bertnt" (GS 6, 341). Der Dialog wre zuende, ehe er +berhaupt eingesetzt htte. + + Wir mssen also nach Art der Dialektik beginnen, mit Einheit statt +mit Differenz. Das ist weniger gewaltsam, als es nach dem ersten +Vorgeplnkel den Anschein haben knnte, bestimmen doch Adorno wie +Luhmann die moderne Gesellschaft ganz konventionell, unter Rckgriff +auf den von Herbert Spencer in die Soziologie eingefhrten Begriff der +funktionalen Differenzierung. Die moderne Gesellschaft ist nach +Luhmann kein Organismus und kein Subjekt, sondern "dasjenige +Sozialsystem, das die letzterreichbare Form funktionaler +Differenzierung institutionalisiert" (1971, 15). "Modern society, +then, has to be described as a functionally differentiated system. +This is its main characteristic, the principle which generates its +structures" (1984, 64). + + Nicht anders sieht es Adorno. Gesellschaft, so verkndet er, sei +"ein Funktions- und kein Substanzbegriff" (GS 8, 349), Soziologie die +"Wissenschaft von den gesellschaftlichen Funktionen" (Adorno 1956, +23). Whrend sich archaische Gesellschaften nicht zuletzt durch ihre +nur geringe Arbeitsteilung auszeichneten, habe sich die moderne +Gesellschaft zu einem gigantischen Interdependenzzusammenhang +entfaltet. + + "Mit Gesellschaft im prgnanten Sinn meint man eine Art Gefge zwischen Menschen, in dem alles und alle von allen +abhngen; in dem das Ganze sich erhlt nur durch die Einheit der von smtlichen Mitgliedern erfllten Funktionen, und in dem +jedem Einzelnen grundstzlich eine solche Funktion zufllt, whrend zugleich jeder Einzelne durch seine Zugehrigkeit zu dem +totalen Gefge in weitem Mae bestimmt wird" (ebd. 22; vgl. GS 8,10). +AAF + Fr Adorno ist mit dieser Bestimmung allerdings nur erst ein +Aspekt der modernen Gesellschaft getroffen. Der zweite fr ihn +wichtige Aspekt ist, da Gesellschaft ebensosehr eine Relations-, ja +eine 'Vermittlungskategorie' sei (Adorno 1973, 36, 39). Was damit +gemeint ist, lt sich durch eine Kontrastierung mit der +funktionalistischen Theorie der Systemdifferenzierung verdeutlichen. +Diese Theorie, die im brigen, wie das Beispiel Althusser zeigt, auch +in den Marxismus Eingang gefunden hat, geht davon aus, da die moderne +Gesellschaft durch die Ausdifferenzierung relativ autonomer +Subsysteme, Ebenen oder Instanzen gekennzeichnet ist, welche innerhalb +des Gesamtsystems nebeneinander existieren. Parsons unterscheidet +dabei bekanntlich das politische, konomische, sozialkulturelle und +gemeinschaftliche System; Luhmann Teilsysteme fr Politik, Wirtschaft, +Recht, Erziehung, Religion und Wissenschaft; Althusser die politische, +konomische und ideologische Ebene. Diese Differenzierung schliet +nicht aus, da zwischen den Subsystemen Beziehungen bestehen: bei +Parsons und Luhmann gibt es das Konzept der Interpenetration, bei +Althusser sogar das Prinzip der Determinierung in letzter Instanz +durch die konomie. Typisch aber ist, da in all diesen Konzeptionen +(von deren Unterschieden hier abgesehen werden kann) die Beziehung +uerlicher Natur ist, eine bloe Wechselwirkung zwischen ansonsten +getrennten und nach eigengesetzlichen Regeln prozessierenden Sphren. + + Adorno bestreitet keineswegs die Existenz solcher autonomer +Sphren. Die bliche Formel, mit der er Bereiche wie Kunst oder +Wissenschaft charakterisiert, lautet, sie seien autonom und fait +social zugleich (GS 7, 16; GS 8, 283). Damit ist jedoch auch gesagt, +da die Theorie es bei der bloen Feststellung der Autonomie nicht +belassen kann. Gerade als autonome sind die Teilsysteme vermittelt +durch die konstitutive Struktur der Gesellschaft, ihre objektive +'Wesensgleichheit' (Adorno 1973, 25), die in den Teilsystemen +erscheint und sie ipso facto als Schein, als Reflexionsbestimmung +durchschaubar macht. Was Adorno fr die Kunst notiert, gilt mutatis +mutandis auch fr die brigen Bereiche des gesellschaftlichen Ganzen: + + "Die Frage nach der Vermittlung von Geist und Gesellschaft reicht weit ber die Musik hinaus, wo man sie allzu leicht auf die +nach dem Verhltnis von Produktion und Rezeption einengt. Gelten drfte, da jene Vermittlung nicht uerlich, in einem dritten +Medium zwischen Sache und Gesellschaft stattfinde, sondern innerhalb der Sache. Und zwar nach ihrer objektiven und subjektiven +Seite. Die gesellschaftliche Totalitt hat in der Gestalt des Problems und der Einheit der knstlerischen Lsungen sich sedimentiert, ist +darin verschwunden. Weil in ihr Gesellschaft sich verkapselt hat, folgt sie, indem sie autonom sich entfaltet, auch der +gesellschaftlichen Dynamik, ohne auf sie hinzublicken, ohne direkt mit ihr zu kommunizieren" (GS 14, 409). +AAF + In der Bestimmung dieser Wesensgesetzlichkeit, die in den +Teilsystemen erscheint und diese dadurch als vermittelte konstituiert, +knpft Adorno an die klassische dialektische Theorie an, die die +moderne Gesellschaft als brgerliche verstand. Wie Marx, der den +Schlssel zu diesem System in der politischen konomie suchte, geht +auch Adorno vom "Primat der konomie" aus (GS 4, 125) und lokalisiert +hier den tragenden Lebensproze der Gesellschaft. Damit ist vor allem +die grundlegende Rolle angesprochen, die der gesellschaftlichen Arbeit +in der Moderne zukommt. Die sozialen Prozesse und Institutionen +existieren nicht aus eigener Kraft, sie sind "wesentlich +vergegenstndlichte Arbeit lebendiger Menschen"; selbst so subtile +Erscheinungen wie Kunst, Philosophie oder Kulturkritik sind vom +Arbeitsproze abhngig, "in dessen Schicksal verflochten" (GS 8, 17; +GS 10.1, 18). Ein berhistorisches Gesetz, wie es etwa Engels' Prinzip +der Determinierung in letzter Instanz aufstellt, ist damit nicht +behauptet, denn eine 'szientifische Invariantenlehre' lehnt Adorno ab. +Fr die moderne Gesellschaft allerdings gilt, da sie die "Einheit der +durch ihre Arbeit das Leben der Gattung reproduzierenden Subjekte" ist +und daher primr als "Totalitt der Arbeit" konzipiert werden mu (GS +5, 267, 269). "Soweit die Welt ein System bildet, wird sie dazu eben +durch die geschlossene Universalitt von gesellschaftlicher Arbeit" +(ebd. 272). + + Von entscheidender Bedeutung ist nun allerdings, da sich dieser +Primat der Produktion unter brgerlichen Produktionsbedingungen auf +eine hchst paradoxe Weise uert: als Abstraktion der Produktion von +sich selbst. Konstitutiv fr den gesellschaftlichen Zusammenhang ist +nicht die lebendige Arbeit, auch nicht das konkrete Bedrfnis. +"Grundbestand der Gesellschaft an sich", "magebende Struktur der +Gesellschaft" (GS 8, 13; GS 10.2, 745) ist vielmehr der Tausch, in dem +die konkreten Einzelarbeiten auf ihren gemeinsamen Nenner reduziert +werden - abstrakte Arbeit als Substanz des Wertes. Im Tausch, schreibt +Adorno, "nicht erst in der wissenschaftlichen Reflexion, wird objektiv +abstrahiert; wird abgesehen von der qualitativen Beschaffenheit der +Produzierenden und Konsumierenden, vom Modus der Produktion, sogar vom +Bedrfnis, das der gesellschaftliche Mechanismus beiher, als +Sekundres befriedigt" (GS 8, 13). + + 'Tausch' in diesem Sinne meint mehr als eine konomische +Transaktion, meint mehr als den bloen Besitzwechsel konkret- +ntzlicher Gegenstnde. Der Begriff steht fr eine Gesamtverfassung, +in der der konkret-materielle Inhalt des gesellschaftlichen Lebens, +der Stoffwechselproze mit der Natur, und der soziale Zusammenhang +auseinandergetreten sind und sich zum Gegensatz verselbstndigt haben. +Ihre Einheit gewinnt die fragmentierte und atomisierte Gesellschaft +nur mehr auf einem Umweg, ber den Austausch; da aber nur Gleiches, +Vergleichbares, quivalentes getauscht werden kann, wechseln in der +Zirkulation nicht Gebrauchswerte den Besitzer, sondern Tauschwerte; +der Markt, so hat es Alfred Sohn-Rethel formuliert, dem Adorno +entscheidende Einsichten verdankt, ist ein "zeitlich und rtlich +bemessenes Vakuum an menschlichem Stoffwechsel mit der Natur" (Sohn- +Rethel 1972, 80). Das, was die Einheit herstellt, ist der Wert; der +Wert aber ist eine reine Abstraktion, etwas, in das 'kein Atom +Naturstoff' eingeht, eine 'blo ideelle' oder 'nur gemeinte +Bestimmung' (MEW 23, 62; Marx 1974, 173). Brgerliche +Vergesellschaftung heit dementsprechend abstrakte, reine +Vergesellschaftung, Integration durch eine Sphre, die in der +traditionellen Metaphysik als 'Schein', in der idealistischen +Philosophie als 'Geist' bezeichnet wurde - eine Welt des Symbolischen, +der Stellvertretung, der Substitution, die alle Erscheinungsformen des +Sozialen, von der Zirkulation ber Recht und Staat bis zu den +subtileren Gestalten der Kunst, der Philosophie und der Wissenschaft, +strukturiert. + + "Den Vorwurf des Idealismus", schreibt Adorno, "hat nicht ein jeder zu frchten, der Begriffliches der gesellschaftlichen +Realitt zurechnet...Mag man, gegenber der leibhaften Realitt und allen handfesten Daten, dies begriffliche Wesen Schein +nennen, weil es beim quivalententausch mit rechten Dingen und doch nicht mit rechten Dingen zugeht: es ist doch kein Schein, +zu dem organisierende Wissenschaft die Realitt sublimierte, sondern dieser immanent...Der Tauschwert, gegenber dem +Gebrauchswert ein blo Gedachtes, herrscht ber das menschliche Bedrfnis und an seiner Stelle; der Schein ber die Wirklichkeit" +(GS 8, 209). +AAF + Diese Hervorhebung des Tauschverhltnisses ist von der +marxistischen Orthodoxie hufig als Rckfall in brgerliches Denken +kritisiert worden, als Unfhigkeit, ber den Standpunkt der +Zirkulation hinauszugehen. Der Vorwurf hat eine gewisse Berechtigung, +soweit er darauf zielt, da Adorno nicht mit der gebotenen +Grndlichkeit auf die Einzelheiten der Marxschen Wertformanalyse +eingegangen ist und deren Begriffe oft nur metaphorisch gebraucht. In +ihrem Kern ist die Kritik jedoch unhaltbar: einmal, weil Adorno +keineswegs bei der Zirkulation stehenbleibt und sehr wohl auch die +entwickelteren Formen des Wertverhltnisses bis hin zur +Klassenstruktur im Blick hat32; zum anderen, weil sie die fundamentale +bereinstimmung verdeckt, die hinsichtlich der strukturellen Bedeutung +der Zirkulation zwischen der Kritischen Theorie und der Kritik der +politischen konomie besteht. Auch im Kapital fungiert als +begrifflicher Ausgangspunkt nicht der Arbeitsproze oder ein wie immer +geartetes 'System der Bedrfnisse', sondern die Abstraktion von der +Produktion und vom Bedrfnis, wie sie sich in der Zirkulation, im +Austausch von Waren gem ihren Werten, tagtglich vollzieht; und wenn +es ein Gliederungsprinzip gibt, einen Grundgedanken, um den sich das +System der politischen konomie organisiert, so ist er hier, in den +verschiedenen Metamorphosen dieser Fundamentalabstraktion zu suchen, +die vom einfachen Tausch ber den Geld- und Kapitalbegriff bis zu den +Oberflchenbestimmungen der 'trinitarischen Formel' reichen. Indem +Adorno diesen Gedanken, in wie metaphorischer Form auch immer, +festhlt und zu der These zuspitzt, da die Produktion nur +gegenstandskonstitutiv, nicht aber gesellschaftskonstitutiv ist, steht +er Marx nher als alle postmarxschen Arbeitsmythologien, die die Rede +vom Scheincharakter der Zirkulation allzu wrtlich, nmlich +brgerlich-aufklrerisch nehmen. Die Einheit der brgerlichen +Gesellschaft ist keine Einheit der Arbeit, sondern eine des Wertes, +der Abstraktion von der Arbeit. + + Diese Einheit aber, und damit kehren wir zum Ausgangspunkt zurck, +existiert nicht unmittelbar, sondern nur als Proze, als "eine +Einheit, die sich durch den Trennungs-, durch den +Abstraktionsmechanismus hindurch berhaupt eigentlich erst vollzieht" +(Adorno 1973, 47). Die konstitutive Struktur, der Wert, ist keine +isolierte, unbewegliche Instanz, die auf andere Instanzen diese oder +jene Wirkung ausbt. Sie erzeugt vielmehr unablssig neue Formen, in +denen sie sich zugleich manifestiert und verbirgt - so wie es Hegel +fr die Sphren des subjektiven, objektiven und absoluten Geistes +beschrieben hat, Marx fr die verschiedenen 'Verkncherungen' des +Mehrwerts vom Profit ber den Produktionspreis bis hin zu den +'mystischen' Formen von Zins, Arbeitslohn und Rente. Das Wesen mu +erscheinen; die Gesamtheit seiner Erscheinungen aber ist: das System. +Das System ist die dialektische Ordnung der Erscheinungsformen der +Struktur, die Struktur wiederum ist nichts anderes als das System, auf +seinen einfachsten und abstraktesten Ausdruck gebracht. Der hier von +Adorno anvisierte Theorietypus liee sich am angemessensten als eine +'strukturalistische Systemtheorie' charakterisieren, die die +Einsichten des Strukturalismus und der Systemtheorie aufnimmt, sie +aber dialektisiert und dadurch ihre Einseitigkeiten vermeidet. + + Es ist nur scheinbar ein Widerspruch hierzu, wenn Adorno an +anderer Stelle davon spricht, da sich das dialektische Denken +zunehmend von der Systemform entfernen msse, oder wenn er die +negative Dialektik geradezu als 'Antisystem' definiert (GS 8, 308; GS +20.1, 165ff; GS 6, 10). Gewi gibt es neben dem Schler Hegels und +Marxens auch den Schler Nietzsches und Benjamins, dessen +antisystematische Affekte sich methodisch in der Bevorzugung der +'Mikrologie' und des Aphorismus niederschlagen und mitunter in +emphatischen Bekenntnissen kulminieren wie demjenigen, da der +wirklich freie Gedanke mit dem System unvereinbar sei (Adorno 1974, +266). Es wre indes ein vlliges Miverstndnis von Adornos Position, +wenn man darin eine Absage an das systematische Denken oder gar eine +Leugnung des Systemcharakters der gesellschaftlichen Realitt sehen +wollte. Da die brgerliche Gesellschaft ein System ist, eine Einheit +also, die aus einem Punkt heraus erzeugt und nicht nur die uerliche +Ordnung eines vorgegebenen Stoffes ist, steht fr Adorno auer Frage, +ebenso wie die Gltigkeit der Kategorien, mit denen Hegel und vor +allem Marx dieses System beschrieben haben. Anders wre seine im +Positivismusstreit immer wieder geuerte Mahnung unverstndlich, da +die Soziologie ihr Objekt verfehle, wenn sie darauf verzichte, +"Gesellschaft als System" zu denken, wenn sie sich mit bloen +Systematisierungen begnge, anstatt "das den Prozeduren und Daten +wissenschaftlicher Erkenntnis vorgeordnete System der Gesellschaft" zu +rekonstruieren (GS 8, 210, 356). Die Mikrologie setzt an jedem Punkt +die Gltigkeit der Marxschen Strukturanalysen voraus, sie ist mglich +nur auf dem Boden des dialektischen Begriffs, auch wenn sie darauf +verzichtet, diesen im Einzelfall zu explizieren. Bei aller Kritik, die +Adorno an Hegels Identifikation des Systems mit dem absoluten Subjekt +gebt hat, hat er doch an der Notwendigkeit und Angemessenheit des +Systembegriffs zu keiner Zeit einen Zweifel gelassen: + + "Ist jenes Subjekt-Objekt, zu dem seine (scil. Hegels) Philosophie sich entwickelt, kein System des vershnten absoluten +Geistes, so erfhrt der Geist doch die Welt als System. Sein Name trifft den unerbittlichen Zusammenschlu aller Teilmomente und +Teilakte der brgerlichen Gesellschaft durch das Tauschprinzip zu einem Ganzen genauer als irrationalere wie der des Lebens, +selbst wenn dieser der Irrationalitt der Welt, ihrer Unvershntheit mit den vernnftigen Interessen einer ihrer selbst bewuten +Menschheit, besser anstnde. Nur ist die Vernunft jenes Zusammenschlusses zur Totalitt selber die Unvernunft, die Totalitt des +Negativen" (GS 5, 324): eben die des Tauschs, der die Einzelnen einem ihnen fremden Gesetz unterwirft. +AAF + Da diese Negativitt das System, das sie konstituiert, zugleich +in den Untergang treibt, wird weiter unten darzustellen sein. + + + + 2. Der zentrale Stellenwert, den die dialektische Theorie dem +Systembegriff zuweist, hat ihr wenig Anerkennung bei derjenigen +Theorie eingetragen, die sich diesen Begriff fr ihre +Selbstbeschreibung zu eigen gemacht hat: der Systemtheorie. Vom +"ehrwrdige(n) Konzept der brgerlichen bzw. proletarischen, +wirtschaftlich konstituierten Gesellschaft" (1974, 217) spricht +Luhmann im gleichen Ton wie ein Raketenkonstrukteur von den Bemhungen +des Schneiders von Ulm; vom "negatorische(n) Apparat brgerlicher +Gesellschaftskritik im Sinne von Rousseau, Hegel oder Marx" (1979, +105) wie von einem berflssigen Ballast, dessen man sich tunlichst +entledigen sollte. Zwar konzediert Luhmann diesem Theorietypus das +"Erstgeburtsrecht als reflexive Theorie", doch bemngelt er +gleichzeitig "die eigentmliche Schmalspurigkeit, die zu geringe und +zu unbestimmte Komplexitt, die Fixierung auf wenige Gesichtspunkte, +an die man mit vermeintlich eindeutigen Effekten Negationen anknpfen +kann" (1982, 193). + + Die Grnde fr diese abschtzig-distanzierende Haltung sind rasch +benannt. Die Theorie der brgerlichen Gesellschaft, sowohl in ihrer +affirmativen als auch in ihrer kritischen Gestalt, ist nach Luhmann +die letzte in einer Serie von Selbstthematisierungen des +Gesellschaftssystems, die die Gesellschaft unzureichend, nmlich auf +der Basis ontologischer und anthropologischer Prmissen zu begreifen +versuchte. Im Gegensatz zu der bis auf Aristoteles zurckgehenden +'alteuropischen' Lehre, welche die Gesellschaft als societas civilis, +d.h. als primr politisch konstituierte Ordnung verstand, habe die +Theorie der brgerlichen Gesellschaft zwar neues Terrain betreten, +indem sie den Akzent auf das Wirtschaftssystem verlagert habe; doch +seien die anthropologisch-ontologischen Begrndungsmuster im Prinzip +beibehalten worden. Wie die Aristoteliker den Primat der Politik, +htten auch die brgerlichen Theoretiker den Primat der konomie mit +Naturbegriffen begrndet und ihre Gesellschaftskonzeption darauf +aufgebaut - wobei es nach Luhmann eine zweitrangige Frage ist, ob +diese Naturbegriffe naturrechtlicher oder materialistischer Provenienz +waren: beide Anstze htten die Gesellschaft als Aggregat von +natrlichen Bedrfnissen und Befriedigungsmglichkeiten konzipiert und +die Teilsysteme auf dieses Kernsystem bezogen (1974, 142, 206). Marx +erscheint aus dieser Sicht gleichsam nur als Schlupunkt in der +Selbstthematisierung der brgerlichen Gesellschaft, sein Materialismus +nicht als Durchbruch zu einer neuen, die brgerliche Welt +transzendierenden Auffassung, sondern als brgerliche Philosophie par +excellence (1981, 235). Obwohl Luhmann nicht ausschliet, da von der +marxistisch-sozialistischen Selbstkritik der brgerlichen Gesellschaft +bestimmte politische Effekte ausgehen knnten, hlt er deren Potential +doch fr erschpft. Ein wirkliches Verstndnis, das sich auf der Hhe +der Zeit befindet, ist nach seiner berzeugung weder von den +Apologeten der brgerlichen Gesellschaft zu erwarten noch von deren +Kritikern. Gefordert ist vielmehr eine grundlegende Neuorientierung, +die die Gesellschaftstheorie von anthropologischen und humanistischen +Prmissen abkoppelt und auf ein anderes, die Eigenstndigkeit und +Eigenlogik des Sozialen bercksichtigendes Fundament stellt. + + Nun ist sicher nicht zu bestreiten, da ontologische Motive in dem +von Luhmann inkriminierten Sinne eine wichtige Rolle in der +materialistischen Dialektik spielen: nicht blo in den kruden +Varianten, die man in den Lehrbchern des real kaum noch existierenden +Sozialismus findet, sondern schon bei Marx, der seine +Revolutionstheorie vollstndig auf eine Ontologie der Arbeit grndet, +und auch bei Adorno, der im Gebrauchswert das "Ineffabile der Utopie" +sieht und seine Kritik am brgerlichen System auf die Idee eines +"Vorrangs des Objekts" sttzt (vgl. GS 6, 22, 184ff.). Was indes die +Darstellung dieses System betrifft, die Untersuchung seines inneren +Baus, so greift Luhmanns Kritik zu kurz. Weder Marx noch Adorno +benutzen Naturbegriffe oder ontologische Argumente. Vielmehr zeigen +sie przise, da die brgerliche Gesellschaft anstatt auf der +konkreten Arbeit oder dem Bedrfnis auf der Abstraktion von der Arbeit +und vom Bedrfnis beruht, auf Verhltnissen, die sich hinter dem +Rcken der handelnden Personen herausbilden und sich zu einem +hochkomplexen Gefge verdinglichter und subjektivierter Bestimmungen +entfalten. Da Luhmann dies im brigen nicht ganz fremd ist, zeigt +sich an solchen Stellen, an denen er auf Marxsche Analysen (wie etwa +die des Geldes) rekurriert und ihnen "ihr volles Recht" bescheinigt +(1980, 253f.). + + Luhmanns Vorschlag, die Gesellschaft unter Absehung von allen +empirisch-materiellen Elementen zu definieren, kann man unter diesen +Umstnden wohl kaum als die kopernikanische Revolution begreifen, als +die er ihn prsentiert. Weit davon entfernt, die dialektische Theorie +durch einen radikalen Paradigmenwechsel zu berholen, wiederholt er +lediglich (ohne allerdings die Begrndung mitzuvollziehen) deren +Einsicht, da der gesellschaftliche Lebensproze unter brgerlichen +Produktionsbedingungen in doppelter Gestalt erscheint: als +gegenstndlich-materielle, aber private Produktion einerseits, als +gesellschaftlicher, aber immaterieller Zusammenhang andererseits. +Konkret und privat im Sinne von ungesellschaftlich, das sind nach +Luhmann die Individuen, die als autonome, 'autopoietische' Systeme +"auerhalb aller sozialen Systeme" operieren und dabei, obwohl +wesentlich Bewutsein, doch einen engen Bezug zum organisch- +materiellen Leben haben (1985, 359, 296f.). Die Gesellschaft hingegen +ist Kommunikation und nichts als Kommunikation. Sie konstituiert sich +zwar aus den Erwartungen und Kommunikationen psychischer Systeme, geht +aber in dieser ihrer Genesis nicht auf, bildet "eine freischwebend +konsolidierte Realitt, ein sich selbst grndendes Unternehmen" (ebd. +173), eben 'reine' Kommunikation. + + "Ganz grob kann man das System der Gesellschaft charakterisieren als Gesamtheit der freinander zugnglichen, +kommunikativ erreichbaren Erlebnisse und Handlungen. Kommunikation verwebt die Gesellschaft zur Einheit" (1981, 309). +AAF + Ersetzt man Kommunikation durch Zirkulation, so hat man exakt die +Marxsche These, nach der die brgerliche Gesellschaft ihre Einheit und +ihren Selbstbezug allein vermge der Ausdifferenzierung einer +eigenstndigen Sphre der abstrakten Allgemeinheit neben und auer der +empirisch-materiellen Dimension der Produktion und des Konsums +herzustellen vermag. + + Die eigentliche Differenz zwischen Systemtheorie und Dialektik +liegt deshalb nicht darin, da die erstere Gesellschaft auf +Kommunikation reduziert und alle nichtkommunikativen Elemente, die mit +der Aneignung der Natur zusammenhngen, eskamotiert (so Ganmann +1986a, 148ff.). Da in der brgerlichen Gesellschaft die in der +Produktion erfolgende Naturaneignung nicht unmittelbar +gesellschaftlich ist, es vielmehr erst durch die Vermittlung der +Zirkulation wird, ist schlielich der Kardinaleinwand der Marxschen +Theorie gegen die Warenproduktion. Die Differenz liegt auf der +methodischen Ebene, in der Art und Anordnung der Kategorien, aus denen +das brgerliche System besteht. Whrend fr die Kritische Theorie +Gesellschaft eine Vermittlungskategorie ist, die zwar nicht im +identischen Subjekt-Objekt, wohl aber in einer konstitutiven Struktur +(dem 'Wesensgesetz') grndet und von diesem 'inneren Kern' her +rekonstruiert werden mu, lehnt Luhmann einen solchen Ansatz ab. Da er +den Strukturbegriff nur in der Fassung kennt, wie er innerhalb der +funktionalistischen Tradition durch Parsons und Merton berliefert ist +- als Manifestation invarianter, nichtkontingenter Beziehungen +zwischen Elementen (1985, 377ff.) -, kann er der Struktur allenfalls +im Hinblick auf vormoderne Gesellschaften einen privilegierten Rang +zugestehen; fr die moderne Gesellschaft dagegen erscheint ihm die +Struktur, von dieser Prmisse her durchaus konsequent, als gegenber +der Funktion von zweitrangiger Bedeutung. Die Einheit der modernen +Gesellschaft, so konstatiert er, existiere nur in der Differenz der +Funktionssysteme: + + "sie ist nichts anderes als deren wechselseitige Autonomie und Unsubstituierbarkeit. Sie ist nichts anderes als die Umsetzung +dieser Struktur in ein Miteinander von hochgetriebener Unabhngigkeit und Abhngigkeit. Sie ist, mit anderen Worten, die dadurch +entstandene, evolutionr hchst unwahrscheinliche Komplexitt" (1986, 216f.). +AAF + Diese Auffassung darf nun nicht so verstanden werden, als gebe es +nach Luhmann kein Gesamtsystem, als sei die Gesellschaft nichts weiter +als die Summe der von den Teilsystemen erfllten Funktionen. Auch +Luhmanns Entwurf bleibt insofern der Tradition +gesamtgesellschaftlicher Theorie verpflichtet, als in ihm der +Gesellschaftsbegriff Begrndungsfunktionen erfllt, "das heit den +Horizont des Mglichen und Erwartbaren definiert und letzte +grundlegende Reduktionen einrichtet" (1974, 145). Diese +Begrndungsfunktion manifestiert sich erstens nach auen, in der +Abgrenzung des Sozialen vom Nichtsozialen, die durch die +Unterscheidung von Kommunikation und Nichtkommunikation erreicht wird. +"Gesellschaft betreibt Kommunikation, und was immer Kommunikation +betreibt, ist Gesellschaft" (1985, 555). Sie manifestiert sich +zweitens in der internen Strukturierung, im Aufbau von Teilsystemen, +die auf bestimmte, nur ihnen zurechenbare Funktionen spezialisiert +sind. Und sie manifestiert sich drittens auch in einem Zugriff auf +diese Teilsysteme, der dafr sorgt, da sich keines derselben auf +Kosten anderer Teilsysteme totalisiert: z.B. durch Einbau von +Beschrnkungen in die Reflexionsstruktur der Teilsysteme (1977, 245). +Insofern kann auch Luhmann von der "Einheit der Gesellschaft" sprechen +und Dimensionen angeben, in denen diese Einheit sich zeigt (vgl. 1974, +147, 149; 1985, 37f.; 1986, 202, 205). + + Der Unterschied zur dialektischen Theorie liegt darin, da diese +Einheit den Phnomenen uerlich bleibt, mit ihnen nicht vermittelt +ist. Gelangt fr Adorno die gesellschaftliche Determinierung in den +Phnomenen selbst zum Ausdruck, so da die deutende Analyse das +Einzelne auf sein Allgemeines hin durchsichtig zu machen vermag, so +rutscht sie bei Luhmann gleichsam zwischen die Phnomene, in die +"Interdependenz und (den) Abstimmungszwang unter den Folgeproblemen +strkerer Differenzierung" (1974, 147). Die Teilsysteme sind in der +modernen Gesellschaft per definitionem nicht Manifestationen der +Gesamtgesellschaft bzw. der konstitutiven Struktur, sie sind +Manifestationen einer Funktion und damit gerade nicht des Ganzen; da +sie gleichwohl einem bergeordneten Zusammenhang angehren, zeigt sich +nicht in ihnen selbst, sondern nur in ihrer Umwelt, in der +Mannigfaltigkeit innergesellschaftlicher System-Umwelt-Differenzen. +Von hier aus wird die eigenwillige, der Auffassung Adornos kontrr +entgegengesetzte Deutung verstndlich, die Luhmann dem +traditionsreichen Begriff der Integration verleiht: + + "Mit dem bergang von segmentrer zu schichtenmiger und von schichtenmiger zu funktionaler Primrdifferenzierung +des Gesellschaftssystems ndert sich die Zugriffsform des gesamtgesellschaftlichen Systems auf die Teilsysteme; sie verlagert sich +von den Strukturen der Teilsysteme auf ihre innergesellschaftliche Umwelt. Die Gesellschaft kann bei zunehmender Komplexitt +immer weniger garantieren, da alle Teilsysteme unter gleichen Strukturen gleichfrmig operieren und sich aus diesem Grunde +nicht bermig belasten. Integration mu vielmehr dadurch vermittelt werden, da alle Teilsysteme freinander +innergesellschaftliche Umwelt sind. Ein Teilsystem gehrt dann weniger dadurch der Gesellschaft an, da es in seiner Strukturwahl +sich nach den Erfordernissen, Werten oder gar Normen richtet, die fr alle Systeme gelten, sondern dadurch, da es sich an einer +nichtbeliebig geordneten, als Gesellschaft garantierten und vorstrukturierten Umwelt auszurichten hat" (1977, 243f.). +AAF + Gegenber diesem Ansatz sind unterschiedliche Reaktionsformen +mglich. Man kann ihn in toto zurckweisen und von auen her, etwa vom +Standpunkt einer dialektisch-materialistischen Konzeption, monieren, +da Luhmann der Oberflche der brgerlichen Gesellschaft verhaftet +bleibt und beispielsweise auerstande ist, den Geldfetisch zu +durchschauen (Blanke/Jrgens/Kastendiek 1975, 381ff.; Giegel 1975, +96ff.; Ganmann 1986). Das mag zutreffen, endet aber in den meisten +Fllen mit einer Rehabilitation eben jener Philosophie der Arbeit, +deren mangelnde Tragfhigkeit Luhmann wohl zu Recht herausstellt. Man +kann ferner immanent-kritisch fragen, ob Luhmann sein eigenes +"postdialektisches Forschungsprogramm" realisiert und Analysen +entwickelt, aus denen hervorgeht, wie die Gesellschaft die ihr +zugewiesene Aufgabe der Einregulierung der innergesellschaftlichen +Umwelt erfllt; wobei man dann feststellen wird, da sich der sonst so +beredte Autor an dieser 'theoriebautechnisch' so wichtigen +Scharnierstelle in Schweigen hllt. Jedenfalls hat Luhmann +bemerkenswert wenig Energie daran gesetzt, den "Leerplatz" zu fllen, +den er schon 1970 an der Stelle einer den heutigen Verhltnissen +angemessenen Theorie des Gesellschaftssystems entdeckte (1974, 152). +
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